23.8.2021

Inspiration für die Gemeindearbeit

An der Zukunftstagung in Chur haben Kirchgemeindevorstände über die Zukunft nachgedacht. Impulse gaben Gespräche über die Gemeindegrenze hinaus, Ateliers und Vorträge. Zum Beispiel derjenige von Sabrina Müller vom Zentrum für Kirchenentwicklung der Universität Zürich.

Kirchliche Handlungen werden in der Schweiz immer weniger in Anspruch genommen. Gab es im Jahr 1960 in der Schweiz noch 40‘062 Taufen, waren es knapp 60 Jahre später (2019) noch 10‘507. Bei den kirchlichen Trauungen ist die Situation ähnlich: liessen sich im Jahr 1960 16‘000 Paare kirchlich trauen, waren es 2019 3287 – dies obwohl die Zahl der zivilen Trauungen im gleichen Zeitraum konstant geblieben ist. Die Zahlen sind Ausdruck eines tiefgreifenden Wandels in der  Religionslandschaft der Schweiz, sagte Sabrina Müller in Chur. Müller ist theologische Geschäftsführerin des Zentrums für Kirchenentwicklung der Universität Zürich und Honorarprofessorin für Praktische Theologie. Seit zwölf Jahren forscht sie zum Thema der Kirchenentwicklung. Klar sei, dass institutionalisierte Religion massiv an Bedeutung verloren habe. Menschen würden heute selber entscheiden, was und wie sie glauben. Zusätzlich habe die Digitalisierung neue Formen der Zugehörigkeit geschaffen.

Optimistischer Widerspruch. Dass Kirche jedoch einfach "kleiner, ärmer und älter" werde, wie das seit der Untersuchung von Jörg Stolz und Edmee Ballif  zur Zukunft der Reformierten in der Schweiz seit mehr als 10 Jahren fast mantrahaft wiederholt wird, diese Sicht lässt Sabrina Müller so nicht stehen. Ausgehend von den Megatrends Individualisierung, Pluralisierung, Säkularisierung, Urbanisierung und Digitalisierung, zeichnete sie ein optimistischeres Bild. Für die gut vierzigjährige Professorin ist klar, dass Religion der Zukunft in der Schweiz auch durch Smartphones und soziale Netzwerke geprägt sein wird. "Das eröffnet Perspektiven auch für die Kirchen", ist Müller überzeugt. Doch es komme jedoch drauf an, wie sie auf die aktuellen Herausforderungen reagierten. In ihrem Vortrag skizziert Sabrina Müller dazu drei Szenarien. 

In einem ersten Szenario könnten die Kirchen versuchen, den Status Quo zu halten und, wo das nicht möglich ist, einen langsamen Abbau der Strukturen einzuleiten. Merkmal für dieses Szenario seien der Ruf nach Professionalisierung und Fusionen. Im günstigen Fall entstünde dadurch Zusammenarbeit und eine neue Dynamik. Im ungünstigen Fall, so Müller, führe es zu einer Stärkung der Hierarchie und zu einer Ausdünnung an der Basis. Folge davon wären vermehrt Burnouts und, in der Wahrnehmung der Bevölkerung, die Reduktion von Kirche auf Gottesdienste, Kirchengebäude und Amtsträger. Kurz: "Szenario eins ist eine Falle", ist Sabrina Müller überzeugt.

Ganz anders das Szenario zwei. Müller nennt es „Neubau“. In diesem Szenario würden die reformierten Kirchen reine Beteiligungskirchen, in denen nur Mitglied ist, wer sich am kirchlichen Leben der Gemeinde beteiligt. Die althergebrachten Organisationsstrukturen würden radikal zurückgebaut. Referenz wäre die Jesus-Bewegung, die am Anfang der christlichen Kirchen gestanden hat, lange bevor die sie zu einer Institution wurde. Doch auch diese Szenario beurteilte Müller kritisch. "Damit würde zu viel aufgegeben", meinte sie, geniessen die Landeskirchen in der Schweiz doch nach wie vor einen grossen Vertrauensvorschuss. Auch unter Personen, die nicht mehr Kirchenmitglieder sind: die Meinung, dass Kirche etwas Gutes tue, sei nach wie vor weit verbreitet. Das hat sich auch in der Corona-Krise gezeigt: die Gottesdienste zählten mit zu den ersten Anlässen, die von einer Öffnung nach dem Lockdown profitierten.

Das von Sabrina Müller favorisierte Zukunftsszenario nennt sie „Biodiversität“ oder „Mixed Economy“. Kirche brauche in Zukunft die Ortsgemeinden ebenso wie die digitalen Netzwerke. Und sie brauche vermehrt „Erprobungsräume“. Kirchenentwicklung der Zukunft müsse „liquide Modelle“ fördern, „Fresh Expressions“, „Emerging Churches“ und „Pioneer Places“ - das sind alternative Formen kirchlichen Lebens, wie sie zurzeit an verschiedenen Orten erprobt werden. Haben die traditionellen Ortsgemeinden also abgedankt? Mitnichten. Studien hätten gezeigt, dass die neuen Formen kirchlichen Lebens in vier von fünf Fällen ohne die traditionellen Kirchgemeinden nicht möglich gewesen wären. Das agile Neue sei sozusagen auf dem traditionellen Nährboden gewachsen. „Wir brauchen in Zukunft beides, die traditionell organisierten Ortsgemeinden ebenso wie die experimentellen Formen."

Neue Kirchenkultur. Bei allem Wandel: unverändert bleibe der Kernauftrag von Kirche: nämlich das Evangelium in Wort und Tat zu bezeugen. Kirchliche Kultur werde in Zukunft noch stärker von Dialog geprägt sein - nicht belehrend, sondern begegnend und zusammen mit Menschen Erfahrungen machend. Eine wichtige Aufgabe werde darin bestehen, Orte und Möglichkeiten zu schaffen, an denen Menschen Hoffnung schöpfen können. Sabrina Müller empfiehlt den Bündner Kirchenleuten, immer wieder auch Querdenker ins Planen und Gestalten einzubinden und so für frischen Wind zu sorgen. Diese könnten zum Beispiel als „theologisch-produktive Hausbesetzer“ in kirchlichen Räumen aktiv werden. Oder sie könnten eigene Angebote gestalten und so für zusätzliche Lebendigkeit und Lebensnähe sorgen.

Blick über den Tellerrand. Nach dem Referat vom Samstagvormittag erwartete die Bündner Kirchenvorstände eine Vertiefung in Ateliers – gedacht als inspirierende Anregung für die strategische Weiterentwicklung der Kirchgemeinden. Pfarrer Andreas Frei stellte die Arbeit des ökumenischen Vereins Oeku – Kirchen für die Umwelt vor, Kirchenrätin Annina Policante die Offene Kirche St. Gallen - WirkRaumKirche, Oliver Wupper-Schweers referierte zum Thema familienfeundliche Kirche, Pfarrer Thomas Bachofner sprach über Local Shared Ministry und Yvonne Kneubühler zum Thema Grenzverletzungen – wie nah ist zu nah? Auch Sabrina Müller war in den Workshops noch einmal zu hören: diesmal zur Zukunft kirchlicher Amtshandlungen.

Stefan Hügli
Kommunikation