15.6.2023

Begegnung mit Simona Rauch

Montagmorgen, 10.15 Uhr. Der Postbus zwängt sich durch die enge „Via Principale“. Die alten Häuser lassen dem Lokalverkehr nur wenig Raum, ebenso wenig wie die schroffen, teilweise noch schneebedeckten Bergflanken dem Dorf. Halt auf Verlangen? – ich drücke. Wer hier in „Vicosoprano, Chiesa riformata della Santissima Trinità“ aussteigt, steht mitten im Dorf. Die mächtige Kirche auf der einen Seite, gegenüber Rathaus und Pfarrhaus. Ich habe Glück. Auch Simona Rauch ist soeben angekommen – von Süden her aus Lugano. „Benvenuto in Bregaglia“, sagt sie gut gelaunt, eine Tasche in der einen Hand, einen Kleiderbügel mit Bluse und Jackett in der anderen. Sie habe am Wochenende ein Seminar geleitet. „Vuoi un caffè?“, fragt sie mich. Der Schreiner fährt gerade vorbei und winkt. Die Pfarrerin schliesst die schwere Eingangstür auf, wir treten ein.

Das Leben teilen. Seit 16 Jahren ist Simona Rauch Pfarrerin der Kirchgemeinde Bregaglia, einer der flächenmässig grössten des Kantons mit 750 Mitgliedern. Schon ihr Vater war Pfarrer hier, und die älteren Menschen in Vicosoprano erinnern sich noch daran, wie Simona in den Kindergarten ging, bevor die Familie dann ins Tessin nach Pregassona weiterzog. „Adesso sono la pastora“, sagt sie, und die Freude darüber, dass es ihr gelungen ist, das Vertrauen der Leute zu gewinnen, ist ihr anzusehen. Sie lebe hier mitten im Dorf, teile das Leben der Leute und auch ihren eigenen Alltag. „Trovare la strada per raggiungere gli altri“, das sei ihr Ziel – im Negozio, in der Schule, im Spital und auf dem Dorfplatz. Ja, sie liebe ihre Arbeit: die Begegnungen, das Unterrichten, das Gestalten von Gottesdiensten. Es ist still in der alten Pfarrhausküche, nur das Ticken einer Uhr und durchs offene Fenster die Instandsetzungsarbeiten am Nachbarhaus sind zu hören.

Baustelle Bondo. „Stare insieme alla gente“ – das machte Simona Rauch auch, als im Jahr 2017 gewaltige Gesteins- und Schlammmassen das Nachbardorf Bondo verwüsteten, als die Strassen blockiert waren, Häuser weggespült oder unter den Massen des Bergsturzes begraben wurden, darunter auch Leben. „Sassi e sassi e sassi“, erinnert sich die Pastora. Als Pfarrerin sah sie ihren Platz in den Häusern, im Spital, im Altersheim, in der Notunterkunft. Zwar konnte der Bergsturz den alten Dorfkern nicht zerstören, dennoch ging alles drunter und drüber, und noch heute ist Bondo eine riesige Baustelle. Allein die Arbeiten an Strassen und Brücken werden bis 2024 dauern. „Es ist ein Leben im Dazwischen“, sagt Simona Rauch, „zwischen dem, wie Bondo früher war, und einem Bondo, wie es mal sein wird.“ Womit ein wichtiges Wort gefallen ist: dazwischen. „Io mi sento spesso tra“, sie fühle sich oft dazwischen. Zwischen Nord und Süd, zwischen Italienisch, Romanisch, Französisch und neuerdings auch Deutsch. Wobei sie das nicht negativ meine und nicht als Mangel, im Gegenteil. Das Dazwischen sei voller Begegnungen. „Wir sind tra – zwischen Kirche, Gesellschaft und Welt. Zwischen heute und morgen, zwischen der Kirche, wie wir sie kennen und gerne bewahren würden, und der Kirche, wie sie wird.“ Jede Generation habe ihr eigenes Dazwischen, meint die Pastora. «Das Dazwischen ist der Raum, den wir bewohnen mit unserem Vertrauen und Glauben, mit unserer Theologie, unserer Verzweiflung wie auch unserer Hoffnung.“ 

Quästorin und Vizedekanin. Das gilt auch geographisch. Wer von Vicosoprano nach Chur will, muss zwei Pässe überqueren. Simona Rauch kennt den Weg. Seit zwölf Jahren ist sie fürs Dekanat der Bündner Synode tätig, zuerst als Quästorin, dann als Erste Vizedekanin, heute gar als amtsältestes Mitglied des Dekanats. Die Aufgabe habe sie aus ihrer kleinen Welt herausgeholt und ihr die Möglichkeit gegeben, Kolleginnen und Kollegen zu treffen, mit ihnen nachzudenken, zu diskutieren und zu debattieren. Doch fast noch wichtiger sei ihr die „cura“, die achtsame Sorge für Kolleginnen und Kollegen. Als Quästorin war es ihre Aufgabe, zu Beginn jeder Sitzung Appell zu halten und dabei die Namen einzeln aufzurufen – eine Aufgabe, die ihr erst nicht sonderlich interessant schien. Mehr als hundert Namen jedes Mal, geordnet nach Region und nach Alphabet. Doch je öfter sie es machte und je mehr sie die Personen hinter den Namen kennenlernte, desto spannender wurde es. Wie geht es Carlo wohl, fragte sie sich, wie Stefano? Wie den betagten Kolleginnen und Kollegen? Das Amt als Quästorin habe ihr den nötigen Boden gegeben für die Aufgaben, die später dazukamen: Konfliktmoderation in Gemeinden, Personalfragen, Unterstützung bei Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit. Heute werde in Bezug auf Kirche oft über schwindende Mitgliederzahlen geredet oder darüber, dass sie „kleiner, älter, ärmer“ werde. Doch für Vizedekanin Simona Rauch ist das nur die eine Seite der Problematik, die komplexere liege tiefer: Es sei die ganz grundlegende und oft von Unsicherheit geprägte Frage: „Wie heute Pfarrerin sein? Wie Pfarrer? Wie Gemeinde? Wie Kirche?“

Selbst Hörerin werden. Tra una parola e l‘altra. Das Wissen um solche Herausforderungen ist für Simona Rauch Anreiz, sorgfältig mit Sprache umzugehen – gerade auch in Liturgie und Predigt. Wenn sie spricht, dann wirken die Worte wie abgewogen, sie sind präzise und können atmen. Nie sind es zu viele und doch haben sie Gehalt. Als studierte Psychologin mit Spezialisierung in Logopädie ist für sie klar, dass sie auch als Theologin nichts sagen will, hinter dem sie nicht hundertprozentig stehen kann, auch auf der Kanzel nicht. Sie wähle die Worte ganz bewusst, mehr noch, sie habe den Anspruch, dass diese „durch sie hindurch gegangen“ seien. Predigt und Liturgie sollen ihrer Meinung nach etwas zum Schwingen bringen. Wenn sie sich deshalb am Sonntagmorgen in aller Frühe auf einen Gottesdienst vorbereitet, versucht sie zuerst selber zur Hörerin zu werden. Das, was sie dabei berührt, bildet dann den Kern für die Vorbereitung des Gottesdienstes. „Die Leute spüren, ob ich bewegt war oder nicht“, ist sie überzeugt. Manchmal sehe sie das den Blicken an. „Es geschieht – oder es geschieht nicht. Doch wenn‘s geschieht, ist’s nichts weniger als ein Wunder.“ Wenn sie für die Bündner Kirche einen Wunsch frei hätte, wäre es, dass nach der Zeit der Verfassungsrevision wieder mehr Zeit bliebe, um über Theologie zu reden und über das Leben, auch über die Stille und über das, was sich Menschen von der Kirche erhoffen. „Wir haben als Bündner Kirche viel Zeit ins Regulieren investiert“, sagt Rauch. Das sei richtig und wichtig, dennoch habe sie bisweilen Mühe damit, nicht nur der Sprache wegen. Über Theologie zu reden bedeutet für sie das, was sie gerade am vergangenen Wochenende in einem Seminar erlebt hat: Unter dem Titel „Sara ride, Agar scappa, Maria Maddalena piange. Donne in cammino tra disperazione e speranza“ hat sie versucht, einen neuen Zugang zu den biblischen Geschichten zu finden. Auch die geläufigsten Geschichten seien heute kaum noch im Detail bekannt. Wenn diese ihr Potenzial entfalten sollen, müsse man bereit sein, sie zu lesen – mit Demut.

Ausgleich bei den Bienen. Doch nun ist es Zeit für das Mittagessen und dann für eine Fahrt zu den Bienen in Spino. Letztere sind die neu entdeckte Leidenschaft der Pastora. Das Imkern tue ihr gut und entspanne, wenn sie unter Stress stehe oder sich in Gedanken verbissen habe. Noch während sie die schweren Schuhe schnürt, erzählt sie von den Königinnen und wie sie entstehen, dass ein Bienenvolk auf die Dauer nur eine einzige Königin haben könne, und dass die Bienen auch eine neue Königin heranziehen könnten, wenn eine solche fehle. Ich lerne das Verb „sciamare“ kennen, was so viel wie „ausschwärmen“ oder „einen Schwarm bilden“ heissen muss, und dass dies offenbar – aus Sicht der Imkerin – möglichst zu verhindern ist, zumindest, wenn sie eine gute Honigernte haben will. Bei den Bienen angekommen, zieht Simona Rauch das weisse Imkerkleid über, auch den Kopfschutz und die Handschuhe, und sie kontrolliert, ob alles dicht ist. „Je ruhiger du bist, desto mehr lassen sie dich in Ruhe“, sagt sie und zündet den Smoker an. Die Bienen brächten ihr Ruhe, denn die Imkerei erfordere volle Konzentration. Stunden später sind wir zurück in Vicosoprano und sitzen auf der Bank vor dem Pfarrhaus. Simona Rauch erzählt mir die Geschichte, wie einige Frauen aus dem Bergell – darunter auch sie – den hiesigen Männerchor gerettet haben, inklusive die anstehende Jubiläumsfeier zu dessen 60-jährigem Bestehen. Das halbe Dorf scheint heute Nachmittag unterwegs zu sein. Wer am Pfarrhaus vorbeispaziert oder -fährt, kommt mit der Pfarrerin ins Gespräch. Simona Rauch bestaunt den zwei Monate alten Leonardo, der ihr stolz im Kinderwagen präsentiert wird. „Posso guardare?“ Sie fragt bei einer anderen Dame nach, wie es zu Hause gehe, ihrem Mann. Sie vereinbart ein Taufgespräch für den kommenden Freitag und wechselt auch mit der betagten Frau Maurizio, die gerade auf ihrem Spaziergang durchs Dorf ist, einige freundliche Worte. Ja, sie kenne fast alle hier im Tal – und alle kennen sie. 

Wieder auf dem Weg gegen Norden. Der Bus der Postautolinie 4 Richtung St. Moritz kriecht bereits die steilen Kehren am Malojapass hinauf, als ich via WhatsApp eine Nachricht von Simona Rauch erhalte: Nach meinem Besuch sei sie noch einmal zu den Bienen gegangen und tatsächlich habe sie einen Schwarm gefunden, frei hängend an einem Ast. Sie fügt ein Foto hinzu – wie als Beweis. Sie habe den Schwarm mit einem Sack eingefangen und den Bienen in einer Kiste ein neues Zuhause zugewiesen, womit sie ein weiteres Bienenvolk hinzugewonnen habe. Das sei ihr im Laufe ihrer noch jungen Imkerkarriere erst zwei Mal passiert. Das Bild zeigt Simona Rauch in weisser Montur vor einer Bienenkiste stehend, das durch das Netz sichtbare Gesicht lachend und den Daumen nach oben haltend. „Peccato che non hai potuto partecipare in diretta“, schreibt sie, „davvero un giorno fortunato.“ 

Stefan Hügli
Kommunikation

Der Beitrag ist in DIALOGintern 2023-06 erschienen
Segni dei Tempi RSI vom 7.9.2024
 

Bild: Simona Rauch ist Pfarrerin in der Kirchgemeinde Bregaglia und war bis 2023 Erste Vizedekanin.

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