17. September 2019
Spannende Kirchenführungen sind Erlebnisse für Kopf, Herz und Hand. Wie das geht, zeigt der Kurs für Kirchenführungen, der soeben begonnen hat. Bereits zum zweiten Mal.
Übungsort Martinskirche. Die angehenden Kirchen-Guides stehen im Halbkreis um einen hoch gewachsenen Mann in beigem Baumwolljacket. Es ist Thomas Gamma aus Zürich, geübt darin, Gäste aus aller Welt durch traditionsreiche Räume zu führen. Thomas Gamma klaubt eine Taschenlampe aus einer Stofftasche und gleich danach ein Fernglas. Wer fokussiere, erlebe einen Raum anders, sagt er. Das Fernglas verändere den Blick und bündle die Aufmerksamkeit. Die Gruppe tut es ihm nach und schwärmt in alle Richtungen aus – ein munteres Entdecken, Ausprobieren und Diskutieren setzt ein. Wer den Kirchenraum noch intensiver erleben wolle, solle sich mit geschlossenen Augen durch den Raum führen lassen, mit den Händen den Schnitzereien nachspüren oder auch mal eine der mächtigen Säulen umfangen.
Kirchen sind berührbar und dürfen angefasst werden. Das sei ein grosses Potential - im Unterschied zu vielen Museen, wo die Gegenstände in Vitrinen lagern. Ein Vorteil sei das auch für junge Menschen, denen ein eigener Zugang zu Kirchenräumen fehle. Eine gute Kirchenführung solle die Sinne öffnen, sagt Gamma. Ein Raum lasse sich nicht nur über das Auge, sondern auch über Gerüche, Geräusche, die Temperatur oder durch den Widerhall beim Singen erfahren. Und dann gibt Gamma den angehenden Kirchen-Guides einige Tipps mit auf den Weg. „Nicht überfordern, aber auch nicht unterfordern“. Das Wichtigste sei, offen zu bleiben für die Menschen die kommen und flexibel auf deren Wünsche zu reagieren. „Weshalb nicht einmal den Kirchenraum durch die Hintertür betreten oder einen Raum besuchen, den andere so nicht sehen können?“
Ein Guide sei Vermittler, im Mittelpunkt aber stehe nicht er oder sie, sondern das Gebäude. „Treten sie nicht als Experten auf“, rät Gamma, sondern gehen sie selbst mit auf Entdeckungstour. Derweil zeigt jemand auf die Südwand der Kirche – überrascht von den kräftigen Farben, welche die berühmten Giacometti-Fenster auf die mächtigen Kirchenmauern werfen. Giacometti habe die Bilder im Jahr 1918 gemalt, als Europa zerbrochen war durch einen Krieg mit Giftgas und beispiellosem Leid. „Erstaunlich, es sind Bilder der Geburt!“ Seit hundert Jahren sind sie in dieser Kirche zu sehen und heute noch haben sie die Kraft mit den Farben zu spielen - ernst und leicht zugleich.
Ich trete hinaus ins Freie, nicht ohne auf den „Übergang“ zu achten. Davon war nämlich im Kurs auch die Rede - vom Raum zwischen drinnen und draussen. Dieser Übergang mache etwas mit einem, wurde gesagt, und ein Kirchen-Guide beginne deshalb seine Führung mit Vorteil schon vor der Kirche. Ich gehe durch den Übergang hindurch, überquere den Martinsplatz und mische mich unter die Leute des Wochenmarkts in der Oberen Gasse. Ja, dieser Markt ist Teil meiner Stadt. Die Martinskirche nun auch.