10.6.2018

Zur bleibenden Bedeutung religiöser Bildung

«Wer nichts als Chemie versteht, versteht von Chemie nichts. Wer nichts als Religion versteht, versteht von Religion nichts. Wer von allem etwas versteht, aber nichts von Religion, versteht der etwas vom Ganzen?» So fragte einmal der bekannte Religionspädagoge Hubertus Halbfas in einem seiner Lehrmittel. Wenn zum kommenden Schuljahr 2018/19 im Kanton Graubünden der Lehrplan 21 eingeführt wird, begegnet uns Religion als Bildungsgegenstand sozusagen im
«Doppelpack»: Im Rahmen des Modells 1+1 steht ab Herbst in der Stundentafel das vom Kanton verantwortete Fach «Ethik-Religionen-Gemeinschaft» (ERG) und das von den beiden Landeskirchen verantwortete Fach «Religion». Damit stellt sich die Frage von Halbfas neu und gleichzeitig anders:

«Stricken ohne Wolle»? Es war immer schon schwierig zu messen, welches religiöse Wissen Schülerinnen und Schüler nach dem Ende ihrer Schulzeit angesammelt haben, was sie im Sinne von Halbfas also «vom Ganzen» verstehen. So argumentierten Skeptiker gerade aus den Reihen der Kirchen anfangs gegen den Lehrplan 21, dass die Umstellung von der Lernziel- auf die Kompetenzorientierung keinen Vorteil bringe. Sie sei ganz im Gegenteil «Stricken ohne Wolle», weil befürchtet wurde, dass wichtige Glaubensinhalte auf der Strecke blieben. Inzwischen konnten wenigstens diejenigen Kritiker überzeugt werden, die meinten, die gegenwärtige bildungspolitische Entwicklung sei nichts anderes als die Wiederholung von Diskussionen um die Curriculumtheorie aus den 1990er- Jahren.

Wozu religiöse Kompetenzorientierung? Und tatsächlich scheinen sich derzeit einige Optionen zu wiederholen, jedenfalls provozieren sie vergleichbare Befürchtungen: Wieder steht beim Lehrplan 21 im Vordergrund, die Ziele schulischen Lernens besser überprüfbar zu machen. Ein umfassendes Verständnis von allgemeiner Bildung tritt dagegen in den Hintergrund. Wieder wird der funktionale Charakter des Lernens betont, weil es bei den Kompetenzen auf Problemlösungsfähigkeiten ankommt. Bildung als zweckfreier oder subjektorientierter Prozess kommt jedoch kaum in den Blick. Wieder wird die Bedeutung von empirischer Lehr- und Lernforschung als Instrument der Qualitätsentwicklung von Schule und Unterricht hervorgehoben. Dass sich Bildungsprozesse gerade im Religionsunterricht letztlich aber nicht immer zweckrational kalkulieren lassen und damit auch nur teilweise messbar sind, wird als Einwand kaum gehört.

Jenseits dieser Bedenken führen wir derzeit eine spannende Debatte um die Kompetenz-
orientierung im Religionsunterricht. Denn es ist ja so, dass sowohl seine Inhalte als auch seine Form einem «Update» unterzogen werden. Der neue ökumenische Lehrplan Religion für Graubünden ersetzt deshalb nicht einfach nur die
St. Galler Vorgängerversion aus dem Jahr 2002, sondern versucht, religiöse Kompetenzen zu vermitteln, die sich in folgenden Dimensionen äussern:

  • Religiöse Sensibilität: Fähigkeit zur Wahrnehmung religiöser Phänomene;
  • Religiöse Inhaltlichkeit: Wissen als Orientierungs- und Deutungsmuster;
  • Religiöses Ausdrucksverhalten: Übernahme religiöser Rollen und Handlungsmöglichkeiten;
  • Religiöse Kommunikation: Sprach-, Interaktions- und Dialogfähigkeit;
  • Religiös motivierte Lebensgestaltung: Fähigkeit zu einem an religiösen Überzeugungen orientierten Handeln.

Identität und Verständigung. Ich gehe davon aus, dass der Prozess der religiösen Pluralisierung in der Schweiz nicht rückgängig zu machen ist – und ich will es auch gar nicht. Im Unterschied zu Früher hat dieser Prozess aber für den Religionsunterricht zur Folge, dass religiöse Bildung in der Volksschule künftig auf zwei Säulen steht, die wir Identität und Verständigung nennen können: Das neue Fach «Ethik-Religionen-Gemeinschaft» übernimmt die Aufgabe der Verständigung. Es hilft bei der Klärung von Werten und leitet zur Auseinandersetzung mit verschiedenen Religionen an. Die Aufgabe der religiösen Identitätsbildung übernehmen die Religionsgemeinschaften. Im Kanton Graubünden sind das die beiden Landeskirchen, im Kanton Luzern auch die islamische Religionsgemeinschaft. Identität und Verständigung werden künftig zwei sich gut ergänzende Gefässe sein.

Perspektivenwechsel. Ich sehe im Miteinander dieser beiden Gefässe eine wichtige religionspädagogische Chance: Kinder und Jugendliche können zum Perspektivenwechsel zwischen der Aussensicht und der Innensicht von Religion angeleitet werden. Dabei ist es nicht Aufgabe des ERG-Unterrichts, Lernende in einer Religion zu beheimaten, weil der Staat dazu nicht befugt ist. Das heisst praktisch: Ich muss mich als Schülerin oder Schüler nicht mit dem Ramadan oder der Konfirmation identifizieren. Aber ich muss begreifen, was sie sind und was sie für andere bedeuten, wenn ich im Kontext religiöser Pluralität meine Mitmenschen verstehen will.

Bildungsreligion. Es wird eine wichtige didaktische Chance des Modells 1+1 sein, dass Kinder und Jugendliche das Christentum nicht einfach nur als eine Frömmigkeitsform kennenlernen, sondern als Bildungsreligion. Zwar ist das Christentum eines nicht: eine Religion nur für Gebildete. Aber es ist eine Religion, die auf Bildung setzt, und das aus gutem Grund, denn es ist eine Religion, die auf der Vernunft des Glaubens basiert. Religion ohne Bildung wird gefährlich. Daher hat der religionsbezogene Unterricht sowohl im Fach ERG als auch in Religion die wichtige Aufgabe, einer Versuchung entgegenzutreten, die sich heute als hässliches Phänomen in allen Religionen zeigt: der Vereinfachung von Glaubensaussagen in Form von Fundamentalismen. Vereinfachung muss aber nicht zwangsläufig Banalisierung bedeuten. Vielmehr ist von den Lehrpersonen im Religionsunterricht die hohe Kunst gefordert, die Kerninhalte des Glaubens so auf den Punkt zu bringen, dass ihre Komplexität nicht vernachlässigt wird. Wenn das gelingt, wird der Religionsunterricht die beste Prävention gegen religiösen Fundamentalismus sein. Angesichts der politischen und religiösen Grosswetterlage habe ich den Eindruck, dass wir gerade diese Bildungschance besonders ernst nehmen müssen.

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