5.12.2022

Gespräch mit Grossrätin Seraina Mani

Seraina Mani, du bist Landrätin in Davos, Grossrätin und neu auch Mitglied im Evangelischen Grossen Rat. Was hat dich dazu bewogen, dort Einsitz zu nehmen?
Ich bin im christlichen Glauben aufgewachsen und verwurzelt. Zudem war meine Mutter schon im Evangelischen Grossen Rat und hat bisweilen davon erzählt. Als nach meiner Wahl in den Grossen Rat die Anfrage kam, ob ich bereit sei, auch im Evangelischen Grossen Rat mitzutun, war für mich klar, dass ich das will.

Der EGR ist eine wichtige Schnittstelle zwischen Kirche und Politik. Was sind deine Erwartungen an den Parlamentsbetrieb?
Das ist zum jetzigen Zeitpunkt noch schwer zu sagen. Ich habe mit ehemaligen Mitgliedern des EGR gesprochen. Wichtig ist mir, dass die Kirche in der Politik präsent ist, dass sie Werte vertritt und aktiv an ihrer Vernetzung arbeitet. Das hilft, gute Lösungen zu finden.

Welche Fähigkeiten bringst du als Einsteigerin mit? Was ist dir wichtig?
Ich bin unbelastet und kann mit frischem Elan an die Arbeit gehen. Es ist mir wichtig, dass die Worte des Glaubens nicht verloren gehen und die Jungen wieder ins Boot geholt werden. Wenn ich am Sonntag in der Kirche sitze und mit 44 Jahren mit Abstand die Jüngste bin, schmerzt mich das. Viele Junge haben nur noch wenig, woran sie sich halten können. Sie haben verloren, was ihren Eltern Vertrauen gab.

Die Landeskirche ist dem Evangelium verpflichtet und den Menschen in Graubünden. Was sind die grössten Herausforderungen für die Bevölkerung?
Die Flüchtlingskrise, der Ukraine-Krieg, aber auch die Verunsicherung im gesundheitlichen Bereich belasten stark. Man darf nicht unterschätzen, wie viele Menschen in dieser Zeit einsam geworden sind. In meinem Beruf als Physiotherapeutin bekomme ich mit, wie einschneidend das ist. Nur wenige merken, dass Kirche sie dabei unterstützen könnte. Zudem sollte dringend die Toleranz gefördert werden als ein Verhalten, das im Alltag gelebt wird. Sie hat in den letzten zwei, drei Jahren stark gelitten, noch vor Kurzem zum Beispiel durch die Diskussionen für oder gegen die Impfung. Familien wurden gespalten, Menschen unterschiedlicher Meinung können nicht mehr miteinander sprechen.

Du gehörst der Mitte-Partei an. Welche Bedeutung hat die Parteizugehörigkeit für dein Engagement im EGR?
Ich bin eine Brückenbauerin. Ich muss nicht Positionen markieren, sondern kann die sachliche Diskussion in den Vordergrund stellen.

Du stammst aus einer Lehrer- bzw. Politikerfamilie. Wie hat dich das geprägt?
Am meisten geprägt haben mich wohl die vielen Diskussionen am Mittagstisch, beim Abendessen, aber auch im Auto – einfach überall, wo grad ein Thema aufgekommen ist. Ich bin froh, dass ich dabei meine eigenen Standpunkte entwickeln und erproben konnte. Es gab dabei keine Meinung, die nicht ausgesprochen werden durfte. Das half, den Mut zur eigenen Meinung zu finden und diese auch zu äussern.

Zum Beispiel?
Seit ich 16 Jahre alt bin, habe ich einen Organspendeausweis, weil ich im Beruf Menschen kennengelernt habe, die nur dank eines gespendeten Organs überleben konnten. Ich sagte mir früh: Wenn ich mal nicht mehr da sein sollte, will ich dafür anderen eine Chance geben. Klar hat das Diskussionen ausgelöst. Aber das ist für mich völlig in Ordnung, solange man die unterschiedlichen Meinungen gelten lässt.

Du bist Physiotherapeutin, hast mit Lernenden zu tun und warst ehrenamtlich im Sport tätig: Wie hat dich das geprägt?
Ich arbeite viel mit Krebspatienten, oft auch mit Palliativpatienten. Der Umgang mit dem Tod gehört für mich zum Alltag. Das prägt und fördert die Empathie. Diese hilft bisweilen auch in der Politik, wenn ein Vorwärtskommen blockiert ist oder es darum geht, den richtigen Zeitpunkt zu finden. In diesem Sinne hat mich mein Beruf flexibel gemacht. Und ja, im Sport habe ich erlebt, welchen Wert langjährige freiwillige Mitarbeit für einen Verein hat. Sowohl Karate als auch Unihockey waren für mich eine Art Lebensschule. Sie haben mir Selbstbewusstsein und eine mentale Stärke gegeben, die ich nicht missen möchte.
 
Wie hat die Arbeit als Physiotherapeutin deinen Blick aufs Leben verändert?
Meine Arbeit gibt mir Demut und Dankbarkeit dafür, dass es mir gut geht. Patienten, die schwerkrank sind, beeindrucken mich, wenn ich sehe, welche innere Stärke sie entwickeln können. Das stärkt die Zuversicht, dass man auch schwierige Situationen meistern kann, ohne zu resignieren oder in Selbstmitleid zu zerfliessen. Der Wille, trotz der Einschränkungen zu leben, imponiert mir. Alles in allem ist es ein Dienst am Menschen im ganz positiven Sinne. Ich möchte das nicht missen.

Du hast zuvor Corona und die daraus folgende Einsamkeit angesprochen. Hat dich diese Krise verändert?
Definitiv, ja. Die Erfahrung des Kürzertretens war für mich eine Zeit, die ich als bereichernd erlebt habe im Sinne einer Entschleunigung und einer Bewegung hin zum Einfachen, zu den Basics. Im Gespräch mit Freundinnen und Patienten stelle ich fest, dass sich während Corona viele gefragt haben, was sie wirklich brauchen im Leben. Und dann nach Möglichkeiten gesucht haben, um ihr Leben zu vereinfachen und trotzdem glücklich zu sein – neben allem Negativen und Schwierigen natürlich.

Zurück zum EGR: Ab sofort kannst du die Rahmenbedingungen für die Evangelisch-reformierte Landeskirche mitbestimmen. Wie wirst du dich einbringen?
Ich werde es handhaben wie im politischen Grossen Rat: Erst einmal werde ich mich einhören, ich werde schauen, wo mein Platz im Gefüge ist, abtasten und mich einfinden. Erst danach werde ich mich für konkrete Anliegen einsetzen. Alles zu seiner Zeit.

Eines der grossen Geschäfte im EGR wird die Neuregelung des Finanzausgleichs sein. Du kommst aus Davos Dorf, einer finanziell eigenständigen Zentrumsgemeinde. Wirst du Verständnis haben auch für die Situation der Randregionen?
Auf jeden Fall, ja. Alle müssen ihre Chancen und Möglichkeiten erhalten, und diese müssen ausgeglichen sein, damit es fair ist für alle. Es braucht Geld für wichtige Projekte, aber auch mal einen Deckel, der die Ausgaben begrenzt.

In naher Zukunft wird auch die Verordnung 210 über Aufbau und Leben der Kirchgemeinde neu zu regeln sein. Darin wird definiert, was eine Kirchgemeinde leisten soll. Weisst du schon, worauf du den Fokus legen möchtest?
Seelsorge und Jugendarbeit erachte ich als sehr wichtig für eine Kirchgemeinde, die dürfen auf keinen Fall fehlen. Es ist eine hohe Kunst, Menschen zu motivieren und ihnen Lebensfreude zurückzugeben, wenn diese verloren gegangen ist. Ich wünsche mir, dass Kirchgemeinden stolz sind auf das, was sie tun und sind. Dass sie Menschen durchs Leben begleiten von der Taufe bis zur Abschiedsfeier. Und ja, es ist wichtig, dass das kompetent ausgeführt wird.

Was ist denn der Mehrwert einer Kirchgemeinde für das Leben vor Ort?
Kirchgemeinden sind starke Netzwerke und wichtig für das soziale Leben vor Ort, auch wegen der vielen Freiwilligenarbeit, die geleistet wird. Kirchgemeinden betreiben Wertevermittlung und leisten Seelsorge, das ist für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft von enormer Bedeutung. Ehrlich gesagt: Eine Gemeinde ohne Kirchgemeinde kann ich mir nicht vorstellen, sie gehört einfach dazu.

Weshalb?
In der Schweiz ist der christliche Glaube in der Verfassung verankert. Ohne die religiösen Gemeinschaften wäre das Leben vor Ort um einiges ärmer.

Was genau würde denn fehlen?
Die mahnende Stimme im Hintergrund. Ich meine jene Worte, welche die Kraft haben,
einen auch mal auf den Boden zurückzuholen und die grösseren Linien in Erinnerung zu rufen.

Worauf sollte die Kirche in Zukunft achten, damit sie relevant bleibt?
Erstmal ist es wichtig, dass sie überhaupt bleibt. Es muss uns gelingen, den Trend des Mitgliederschwunds aufzuhalten und umzukehren, auch in den Köpfen. Wir leben in einer Zeit, da die extremen Positionen mehr gehört werden als die gemässigten. Ich würde mir wünschen, dass die Landeskirche als gemässigte und am Gemeinwohl orientierte Stimme wieder stärker geschätzt wird. Bei den Jungen ist es ja oft so, dass sie entweder überhaupt keinen Bezug zum Glauben haben oder sie in extremistischen Gruppen unterwegs sind. Doch die Klammern, welche die Gesellschaft zusammenhalten, sind wichtig, es braucht sie dringender denn je. Auch die Grundwerte, sie überliefern sich nicht von alleine. Sie müssen den Kindern weitergegeben werden.

Und was müsste die Kirche dringend besser machen?
Das ist eine schwierige Frage. In Davos schätze ich, dass wir tolle Pfarrpersonen haben, bei denen sich Jung und Alt wohl fühlen. Sie sind innovativ, haben Ideen, machen und tun. Aber ja, Scheuklappen abbauen, den Blick weiten, das ist immer gut. Weg vom Einheitlichen, hin zum Besonderen und Spannenden. Ich habe das Gefühl, dass es in die richtige Richtung geht. Jetzt müssen wir nur noch die Leute motivieren, wieder vermehrt mitzumachen.

Stefan Hügli
Kommunikation

Seraina Mani ist Davoser Landrätin, Grossrätin und  Mitglied des Evangelischen Grossen Rats.