16.12.2024

Mittagspause mit Kirchenrat Frank Schuler

Los geht's. Frank Schuler setzt den Fahrradhelm auf, schultert seinen Rucksack und tritt in die Pedale. Wir radeln der Loëstrasse entlang, am Kantonsspital vorbei. Schuler lobt die Vorzüge seines robusten Tourenrads mit Stahlrahmen, erzählt von Radreisen in Kambodscha und Vietnam. Es gebe noch so viele Gegenden der Welt, die er mit Ehefrau Muriel «er-fahren» möchte. «Den Freiraum finden, das ist das Problem.» Die Strasse steigt unterdessen steil an, und wir müssen uns auf den sportlichen Teil unseres Mittagsausflugs konzentrieren. Zügig geht es an den letzten Wohnhäusern vorbei; mit jedem Höhenmeter entfernen wir uns von der Stadt und ihren Dringlichkeiten. «Hier», meint Schuler, als die Strasse wieder flacher wird, hier habe er als Kind oft und gerne gespielt – Erkundungen im Fürstenwald, Schlitteln auf der Prasserie, Skifahren auf Campodels. Auch die Pfadi habe sich am Samstag jeweils beim Waldhausstall versammelt.

Von der Pfadi geprägt. Wir stellen unsere Fahrräder ab und setzen uns auf eine Holzbank. «Die Pfadi.» Damit ist ein für Frank Schuler wichtiges Stichwort gefallen. «Wolf», «Leitwolf», «Venner», «Leiter» – als Kind hat er die gesamte Pfadikarriere durchlaufen, und noch heute ist er der Organisation als Präsident des Alt-Pfadi Vereins Chur und Mitglied der juristischen Kommission der Pfadibewegung Schweiz verbunden. Er trägt eine blaue Jacke des Pfadi-Kantonalverbands, auf deren Rücken in grossen orangefarbenen Buchstaben «BATTASENDAS» geschrieben steht. «In der Pfadi habe ich vieles gelernt, was mir heute wichtig ist: Kameradschaft, Führungsfähigkeiten, Verantwortungsbewusstsein und Teamarbeit.» Auch während der Studien- und Assistenzzeit in Genf blieb er der Pfadi als Leiter treu und beteiligte sich als Experte für Jugend+Sport an der Organisation kantonaler und nationaler Ausbildungskurse. «Es war eine Zeit, in der man als Assistent noch frei war, ohne ständig Nachweise erbringen zu müssen», erinnert er sich, selbst erstaunt, dass das so möglich war. Sein Pfadiname war übrigens «Zebra», und der passe ganz gut: "sowohl schwarz als auch weiss, dazu bestimmte Facetten und überraschende Unterschiede.» Und dann nimmt er den roten Rucksack und klaubt, als ob es eines Beweises bedürfte, zwei Pullover heraus, einen grauen vom Bundeslager «cuntrast 94» und einen grünen, auf welchem das Logo der Pfadi Chur grossflächig die Rückseite bedeckt.  

Spezialist für Verfassungsfragen. Die weite Welt war einst des Kantonsschülers klares Ziel. Er wollte in die Diplomatie, sich für den «Concours» bewerben, die Aufnahmeprüfung zum diplomatischen Dienst. Doch neben Assistenz, Dissertation, Pfadi und Familie blieb nur wenig Zeit für die entsprechende Vorbereitung – und die persönlichen Prioritäten änderten sich. «Ob ich bereit gewesen wäre, ein Leben lang alle drei bis fünf Jahre den Wohnort zu wechseln?», sinniert Schuler und gibt die Antwort gleich selbst: «eher nicht.» Stattdessen übernahm er in Graubünden eine Projektleitung im Rahmen der Revision der Kantonsverfassung, koordinierte deren Umsetzung und mehrere grosse Reformen im Justizbereich. Kurz vor der Wahl in den Kirchenrat wurde er Partner in einer auf öffentliches Recht spezialisierten Kanzlei. Den Blick in die weite Welt pflegte er als Offizier und Sprachspezialist für Russisch in der Schweizer Armee – nachhaltig beeindruckt vom späteren Generalstabschef Hans-Ulrich Scherrer und dessen Führungsmotto «Man muss Menschen mögen». Zudem war auch Ehefrau Muriel bis vor Kurzem oft international unterwegs. 

Anwalt der Bündner Kirche. Zwölf Jahre lang war Frank Schuler als Kirchenrat tätig – Ende Jahr tritt er infolge Amtszeitbeschränkung zurück. Als Vorsteher des Departements 2, Strukturelles und Rechtsfragen, hat er die Entwicklung der Landeskirche massgeblich mitgestaltet. Er war federführend bei der Erarbeitung der neuen Kirchenverfassung sowie, nach Inkraftsetzung durch das Parlament, verantwortlich für deren Umsetzung. Hunderte von Gesetzesartikeln hat er entworfen und unzählige Sitzungen geleitet. Er organisierte Vernehmlassungen, verfasste Botschaften und vertrat Entwürfe des Kirchenrats vor der Synode sowie vor dem Kirchenparlament. Heute befindet sich das Generationenprojekt im Endspurt. Fünf von sechs Meilensteinen sind erreicht. Worauf er am meisten stolz sei, will ich wissen. Dass es gelungen sei, all die unterschiedlichen Anspruchsgruppen in den Gesetzgebungsprozess einzubeziehen, so die Antwort. Die Tatsache, dass die Gesetze mit grösstmöglicher Zustimmung im Kirchenparlament durchgebracht werden konnten, sei ein schöner Beweis dafür. 

Frank Schulers Blick streift vom Fürstenwald über die Stadt Chur hinaus bis weit ins Bündner Oberland. Die Kirche von morgen müsse bereit sein, «Alltagsrelevanz» zurückzuerobern, meint er. Die Verfassung gebe dafür mit dem Stichwort «Vielfalt» den Rahmen vor. Doch Vielfalt müsse gelebt werden, sonst nütze sie nichts. «Die Kirche muss dorthin zurück, wo sie schon einmal war: zur Dienstleistung an der Gesellschaft». Schuler plädiert dafür, ganz neu danach zu fragen, was die Bevölkerung braucht. «Wir müssen uns wieder relevant machen, besser noch: unentbehrlich – mit Angeboten, die dem Evangelium entsprechen.» Alle Energie in Sonntagsgottesdienste und Religionsstunden zu investieren, sei nicht der richtige Weg; der «weitere Blick» müsse gewagt werden. Eine Organisation, die breiter wahrgenommen werden wolle, müsse sich entsprechend entwickeln, sie müsse offener werden und Menschen mit noch unterschiedlicheren Hintergründen als Mitarbeitende gewinnen.

Vom Wandel geprägt. Frank Schuler sagt es als einer, der von Kindesbeinen an erfahren hat, was Wandel bedeutet und mit welcher Verunsicherung dieser verbunden sein kann. Als Sohn einer Buchhändlerfamilie habe er den Vorteil genossen, laufend gut mit Literatur versorgt gewesen zu sein, und mit dem Bestellen von Büchern per Telex sei immer auch eine Möglichkeit vorhanden gewesen, das Taschengeld aufzubessern. Doch er hat dabei auch erlebt, wie es sich anfühlt, wenn bewährte Geschäftsmodelle wegbrechen und trotz Fleiss und Umsicht der Gewinn einbricht. Der Wandel der Branche im Laufe der Jahrzehnte von der Aufhebung der Buchpreisbindung bis zur Konkurrenz durch den Onlinehandel war gross, ebenso die daraus resultierenden Konsequenzen. «Zum Glück leben wir von den verkauften Büchern und nicht allein von den gelesenen», pflegte sein Vater humorvoll zu sagen, doch für geübte Ohren waren die zwischen den Worten anklingenden Sorgen nicht zu überhören. 

Unweit von uns balgen sich Ziegen, und eine Joggerin folgt einem vorwärtsstrebenden Hund an langer Leine. Ich frage Frank Schuler, weshalb er sich überhaupt für kirchliche Angelegenheiten interessiere; als selbstständiger Rechtsanwalt könnte er Aufträge annehmen, die ihm deutlich mehr einbringen würden als jene von der Landeskirche. «Die Kirche steht für Werte, die mir wichtig sind», gibt er zur Antwort, beinahe erstaunt darüber, dass ich eine solche Frage überhaupt stelle. «Eigenverantwortung und Sinn für die Gemeinschaft», beides sei ihm wichtig, und er finde es in der Kirche gut verankert. Sein kirchliches Engagement habe auch mit familiärer Prägung zu tun. Seine Mutter nämlich sei eine gläubige Frau gewesen und habe klein Frank deshalb auch in die Sonntagsschule geschickt. Dieser fand die dort erzählten Geschichten spannend und ging gerne hin. Nur selbstverständlich sei es für ihn heute, dass er die Kirche bei der Weiterentwicklung unterstütze, wenn sich Gelegenheit böte. Schliesslich liegt Frank Schuler auch der Leitspruch des Gründners der Pfadi am Herzen, wonach man die Welt ein wenig besser hinterlassen solle, als man sie vorgefunden habe. «Das ist noch nicht der Weltfrieden», relativiert er, «aber es ist doch ein Beitrag zu gelebter Solidarität. Nur für mich zu schauen, wäre mir zu kurz gedacht.»

Liberale Offenheit. Bei allem Wohlwollen: Einmal hat Schuler dann doch daran gezweifelt, ob er mit seinem Einsatz für die Kirche noch richtig liege. Es war während der Beratungen zum Regionen- und Personalgesetz, als ein Mitglied des EGR harsche Kritik an Vorlage und Vorgehen äusserte. Er habe damals zwar nur die Vorlage des Kirchenrats vertreten. Dennoch hätte er den Bettel fast hingeworfen, weil ihn die Kritik doch auch persönlich getroffen habe. «Die anderen müssen nicht einverstanden sein mit dem, was ich präsentiere, aber sie sollten bereit sein, sachlich zu diskutieren», hält er entgegen. Zum Glück hätten ihn die Kolleginnen und Kollegen im Kirchenrat damals unterstützt und ihm Mut zugesprochen. Tage später verstand er, dass die Beratung von zwei Vorlagen zu viel war – mit entsprechendem Widerstand. Eine einfach fassbare Übersicht über die anstehenden Schritte entstand; erneut wurde darüber informiert, wer sich wie, wo und wann an der Gesetzesarbeit beteiligen könne. Frank Schulers Haltung liberaler Offenheit hat sich auch in diesem Konflikt als hilfreich erwiesen. 

Neuer Verteilkampf? «Genau hinzuhören, wenn Menschen aus unterschiedlichen Blickwinkeln ihre Wahrnehmung äussern», das zahle sich langfristig aus, ist er überzeugt. Diese Haltung nehme er auch ein, wenn er Gemeinden besuche, die in Schwierigkeiten stecken – sei es aufgrund personeller Entscheidungen, stockender Fusionsprozesse oder weil ein Vorstand nicht besetzt werden konnte. Immer stehe für ihn die Handlungsfähigkeit der Kirchgemeinden im Mittelpunkt. So gross die Anerkennung für das, was Frank Schuler als Kirchenrat geleistet hat, auch ist: Der Rückblick ist für ihn mit einem Wermutstropfen verbunden: 72 000 Mitglieder zählte die Bündner Kirche, als er vor zwölf Jahren im Kirchenrat begann; heute sind es 60 000. «Wir haben 20 % der Mitglieder verloren – ausgetreten, verstorben, nicht angemeldet beim Zuzug.» Das beschäftige ihn sehr, ergäben sich daraus doch eine ganze Reihe neuer Herausforderungen für die Kirche von morgen: Schwierigkeiten bei der Freiwilligenarbeit, beim Besetzen von Ämtern, Fachkräftemangel bei den Mitarbeitenden und ein neuer Verteilkampf unter den Regionen bei der Zuteilung der knapper werdenden Gelder. «Die Gesellschaft entwickelt sich weiter, die Anforderungen an die Kirche auch.»

Der Mittag ist vorbei, es ist Zeit, weiterzuziehen. Doch vorher muss Frank Schuler noch davon erzählen, wie schön der Fürstenwald nicht nur für Pfadfinder, sondern auch für Orientierungsläufer sei. Der Orientierungslauf ist eine Passion, die er einst mit seinen drei Kindern Nicolas, Elena und Nadja entdeckt hatte. Statt zu warten, bis diese mit dem wöchentlichen Training fertig waren, zog er selbst die Laufschuhe an, ging in den Wald und begann, abseits von Wegen zu laufen. Er lernte, wie man den Kompass hält und die Karte liest. «Orientierungslauf fordert den Kopf und die Beine», erklärt er. Selbst eine kleine Suchaktion von zwei oder drei Minuten könne einen scheinbar sicheren Zeitvorsprung wieder zunichtemachen. Und wie vorhin schon bei der Pfadi kommt Schuler auch bei diesem Thema tüchtig in Fahrt. Er spricht von Gräben, Rinnen, Senken und Mulden. Er beschreibt Karten, auf denen die Wiesen gelb, der Wald weiss und die «Belaufbarkeit» desselben in verschiedenen Grüntönen dargestellt wird.  
In der Ferne ist der Stundenschlag von drei oder gar vier Kirchen zu hören. «Schon zwei Uhr?», fragt Frank Schuler erstaunt und schaut auf die Uhr. «Ja dann». Er stopft die beiden Pullover in den Rucksack, zieht die BATTASENDAS-Jacke über und schwingt sich aufs Fahrrad. In der Bäckerei an der Loëstrasse wird es noch ein Stück Apfelwähe geben – um halb drei Uhr schon wird er in der Kanzlei erwartet.

Stefan Hügli
Kommunikation

Der Beitrag ist in DIALOGintern 2024-12 erschienen

Dr. Frank Schuler ist Anwalt und Kirchenrat. Per Ende 2024 scheidet er infolge Amtszeitsbeschränkung aus dem Kirchenrat aus.