5.12.2022
Begegnung mit Christoph Zingg
Kurz bevor sich die Lukmanierstrasse über den Aclettabach schwingt, zweigt die Via Raveras nach links ab. Wer hier weitergeht, steht schon bald mitten in Disentis Downtown. Das mächtige Kloster ist noch sichtbar, doch es ist in die Ferne gerückt. Die Häuser, ansonsten aus massivem Stein, sind in Raveras aus Holz gebaut. «Spuren der Walser und der Armut», wird Christoph Zingg später erklären. Er wird mir von Toni, dem im Quartier wohnhaften Schreiner, erzählen, auch dieser ein SCB-Fan wie Zingg. Mit ihm spricht er jeweils über das Spiel vom Vorabend und analysiert, wie dieses hätte gewonnen werden können. Auch von einer betagten Frau wird er mir berichten, die bis heute nicht vergessen wolle, dass der Ortspfarrer ihr als Raveras-Kind einst in der Schule die Hand zum Gruss verweigert hatte. Ich gehe weiter. Zwei Gehminuten später steht das Gemeinschaftszentrum Aua Viva vor mir. Aus Holz auch dieses, ein Blechdach schützt es vor Wind und Wetter.
Von Zürich in die Cadi. Dass er nach elf Jahren Geschäftsleitung bei der Stiftung Pfarrer Sieber in Zürich noch einmal ins Pfarramt wechseln würde, hätte Christoph Zingg vor nicht allzu langer Zeit noch für wenig wahrscheinlich gehalten. Doch die Anfrage aus dem Bündner Oberland, ob er Pfarrer der Cadì werden und die Leitung der Stiftung «Tür auf – mo vinavon» übernehmen wolle, kam genau zum richtigen Zeitpunkt und die neue Chance passte gut zur familiären Situation. Kommt hinzu, dass zingg trotz Verantwortung für 190 Mitarbeitende und 16 Einrichtungen – darunter die Notschlafstelle «Pfuusbus» oder den «Brotegge» – im Herzen immer Pfarrer geblieben sei. Zusammen mit seiner Partnerin hat er drum entschieden, den Schritt zu wagen. Und so zügelten die beiden ihr Hab und Gut an die Via Raveras. Dort treffe ich ihn in Jeans und weissem Hemd an. Er bittet mich ins Pfarrbüro, wo wir am grossen Tisch Platz nehmen, in dessen Mitte eine brennende Kerze und ein Spendenkässeli für eine Schule in Charkiv stehen. An der Wand hängt van Goghs Abendgebet. Das Bild strahlt Ruhe aus in einem Büro, dem die umtriebige Vielfalt von Pfarralltag und Kirchenratstätigkeit anzumerken ist.
Spuren des Lebens. Zinggs Menschenfreundlichkeit und Freude am Lebensleichten sind im Gespräch immer wieder wohltuend spürbar. Wie ein Bollwerk gegen zu viel Ernsthaftigkeit steht im Pfarrbüro ein geblümtes Sofa und daneben ein Modellboot mit gehissten Segeln – sein Sohn hat es der Ridgeway nachgebaut, welche in einem Hafen am Thunersee liegt. Die Büchergestelle sind bis auf den letzten Platz belegt. Im einen findet sich eine Sammlung von Lichtbildern: Florida, Indonesien, Finnland, Südafrika, Paris, aber auch eine Magazinschachtel mit der Aufschrift «verliebt in Wien» und ganz zuoberst «Chliini Freudeli». Zwischen den Büchern zu den Themen Seelsorge, Ethik, Neues Testament oder Befreiungstheologie, stehen, einem Setzkasten gleich, Dutzende von Souvenirs: eine kunstvoll gefertigte Marionette, Klein-Christophs erste Wanderschuhe mit Rucksack, eine Sanduhr, ein Seestern sowie zwei alte Bibeln. Deren Seiten sind abgegriffen und zerfranst. Ja, er liebe es, Gegenstände aufzubewahren, die ihn an gelebtes Leben erinnerten.
Blick für Chancen und Risiken. Nun also die Surselva. Der Pfarrer und Kirchenrat macht keinen Hehl daraus, dass die Region zuoberst am Rhein für ihn Neuland ist, auch die Situation einer «Diaspora»-Gemeinde. 410 reformierte Kirchenmitglieder wohnen zwischen Tavanasa und Tschamut über Dutzende von Dörfern, Siedlungen und Fraktionen verstreut. Nicht wenige von ihnen seien einst für den Bau der Staumauern oder des NEAT-Basistunnels hergezogen und dann geblieben. «Es ist eine spannende Region, aber auch eine Region, die um ihre Existenz kämpft», meint Zingg. Es gelte, sich zu wehren und von sich reden zu machen mit Partnerschaften und Projekten. Als ob es um die Definition eines Business-Modells ginge, erwägt er Risiken und Chancen, erforderliche Massnahmen und Erfolgsfaktoren. Zinggs Erfahrung im Management ist spür- und hörbar. Das Gemeinschaftszentrum Aua Viva sei ein «Laboratorium», das schnell auf Bedürfnisse und Entwicklungen der Region reagieren könne, ein «Schrittmacher für die ganze Region». Stolz weist er darauf hin, dass die KiTa der Stiftung «Tür auf – mo vinavon» soeben mit einem Preis der Pestalozzi-Stiftung ausgezeichnet worden sei – als Anerkennung für ihren Beitrag zur Frühförderung im Berggebiet.
Vom Wert der Diakonie. Dass die Menschen in der Schweiz je länger je weniger religiös seien, stimme so nicht, sagt Zingg. Nur eigenständiger und mündiger seien sie geworden. Nach wie vor gross sei das Bedürfnis nach Rückbindung, nach Werten und Wegleitung für das eigene Leben. Bei den Sozialwerken Sieber in Zürich habe er erlebt, welche Dynamik entsteht, wenn Menschen den Mut finden, füreinander da zu sein. «Diakonie bedeutet durch den Staub zu gehen», sagt Zingg. Zu biblischen Zeiten hätten Gastgeber ihren Gästen bei der Ankunft die Füsse gewaschen – als Zeichen der Zuwendung und zur Erfrischung. Das sei, in übertragenem Sinne, die Spezialität der Christinnen und Christen bis heute. Auf der Gasse habe er viele Geschichten gehört und dabei gelernt, wie wichtig Zuhören ist, er liebe Menschen und ihre Geschichten. Und nein, es stehe ihm nicht zu, das Gehörte zu beurteilen. «Wenn Brüche da sind, hat auch das seinen Grund.»
Die Rolle als Gastgeber steht Christoph Zingg gut. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Als Jugendlicher wollte er Flugbegleiter werden – «Gastgeber am Himmel». Doch er entschied sich dann doch für das Theologiestudium. Seine Begeisterung fürs Fliegen führte ihn in über 40 Länder und während der Semesterferien verdiente er seinen Lebensunterhalt, indem er Flugzeuge mit Gepäck, Fracht und Post belud. Als Gastgeber verstand sich Zingg dann wieder in seiner Zeit als Pfarrer in Bever und später als Geschäftsführer der Sozialwerke Pfarrer Sieber. Auch im Aua Viva, will er Gastgeber zu sein. Es ist ihm wichtig, den Menschen, die in der Gemeinde ein- und ausgehen, mit Interesse und Wärme zu begegnen und dabei Freud und Leid des Lebens in aller Offenheit zu teilen.
Aussenminister im Kirchenrat. Bei seinem Amtsantritt als Kirchenrat hat Christoph Zingg dessen Legislaturziele 2021 – 2024 eingehend studiert. Um Diakonie geht es etwa bei der sechsten Zielformulierung. Diese sieht vor, dass der Kirchenrat zur Pflege und zum Erhalt solidarischer Gemeinschaften beitrage, Not erkenne und Hilfesuchende unterstütze, sich einsetze für Inklusion und Vielfalt. «Hundert Punkte», sagt Zingg. Es sei dabei wichtig, dass solche Ziele zusammen mit den Leuten realisiert würden. Zum Beispiel eben in einer Gemeinde, wie sie sich im Gemeinschaftszentrum Aua Viva trifft. «Kirche sind wir nur alle zusammen», sagt Zingg und klopft mit dem Zeigefinger auf den Tisch, als wolle er den Worten besondere Bedeutung verleihen. Nur zusammen hätten Christinnen und Christen die Kraft, einen Beitrag zum Wohl der Gesellschaft zu leisten.
Und die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz? Ob Entspannung in Sicht sei, frage ich den Aussenminister des Kirchenrats, der seit Neuestem auch Mitglied der EKS-Geschäftsprüfungskommission ist. Der Wille aller Beteiligten, aus der Geschichte rund um den unschönen Abgang von Gottfried Locher herauszukommen, sei spürbar vorhanden, meint Zing diplomatisch. Es gelte nun in erster Linie zu verhindern, dass solches noch einmal geschehe. Personelle und strukturelle Änderungen machten ihn zuversichtlich, dass die EKS schon bald mit der Sache abschliessen und wieder nach vorne blicken könne. Zumindest eines hätte sich durch die Turbulenzen geklärt: Die Frage, ob die Schweizer Reformierten in Zukunft einen Bischof brauchten, sei definitiv vom Tisch. Der EKS komme vielmehr die Aufgabe zu, Einheit aus der Vielfalt heraus sichtbar zu machen. Sie solle den Kantonalkirchen «zudienen». Klar überschritten seien die Grenzen dort, wo sich die EKS anmasse, selbst gesetzgebende Instanz zu sein.
Angebote für die Menschen vor Ort. Es läutet im Pfarrbüro. «Sie sind da», sagt Zingg, zieht sein Gilet über und lädt mich ein, ihm zu folgen. Mit «sie» hat er offenbar die freiwilligen Helferinnen und Helfer gemeint, welche die wöchentliche Lebensmittelabgabe im Aua Viva organisieren. Im Nu verwandelt sich der Gemeinschaftsraum in eine der 144 Abgabestellen von «Tischlein deck dich». Die von einem Kleinlastwagen gelieferte Ware wird auf vier Rollis hereingebracht und in kleine Portionen aufgeteilt: Bananen, Kartoffeln, Früchte, auch Riegel und Marroni sind dabei. Während der Pfarrer hilft, ein Dutzend Kürbisse zu zerschneiden, versammeln sich draussen schon die ersten Kundinnen und Kunden. Von Minute zu Minute werden es mehr. Viele von ihnen stammen aus der Ukraine. Sie kennen sich. Es herrscht munteres Treiben und der Besucher spürt, wie das Aua Viva zum Begegnungszentrum wird. Ja, die Lebensmittelabgabe sei ein Herzensprojekt, sagt Zingg, und es laufe gut. Sie trage dazu bei, kleine Familienbudgets zu entlasten und leiste zugleich einen Beitrag gegen die Verschwendung von Lebensmitteln.
Dass im Aua Viva auch mal Ideen getestet werden, deren Erfolg ungewiss ist, sei eine grosse Chance sowohl für die Kirchgemeinde wie auch für die Stiftung «Tür auf – mo vinavon». Heute gehören zu deren Angeboten eine KiTa, Ferien für Jugendliche, eine offene Jugendarbeit, Dialogveranstaltungen und ein Partnerprojekt mit Nigeria. Auch bei der Lebensmittelabgabe in Zusammenarbeit mit «Tischlein deck dich» habe es zu Beginn Stimmen gegeben, die mahnten, Disentis sei zu klein und die soziale Kontrolle zu gross, weshalb das Angebot nicht genutzt würde. Dass die Aktion nun doch ein voller Erfolg geworden ist, ist für Christoph Zingg umso schöner. «Wir haben allen Grund, mit Freude Kirche zu sein», sinniert er und beobachtet ein Gruppe von Ukrainerinnen, die mit Kindern und vollen Taschen die Via Raveras hochlaufen. «Sie sollen sehen, dass wir im Aua Viva etwas tun,» sagt er und fügt nach einer kurzen Weile hinzu: «Sie sollen spüren, dass wir es aus Freude am Miteinander tun.»
Stefan Hügli
Kommunikation
Christoph Zingg ist Pfarrer in der Cadì und Kirchenrat. Er leitet das Departement 7 - Aussenbeziehungen und Gesellschaftsfragen.