Begegnung mit Barbara Hirsbrunner

Die Veranstaltungsplakate am Scheunentor in Scharans zeigen deutlich, dass das gesellschaftliche Leben wieder Fahrt aufgenommen hat. Der Domleschger Setzlingsmarkt findet demnächst statt, ebenso der Bücherrat im Buachlada Kunfermann, der Schwingclub wirbt für das Nachwuchs-Schwingfest und in Thusis gibt das Frauenjodelchörli Stailalva ein Jubiläumskonzert. Hinzu kommen in diesem Frühling die Wahlplakate diverser Damen und Herren, die aufgrund ihrer «Lust auf Verantwortung» oder dem Versprechen, «miteinander für eine lebenswerte Region» unterwegs zu sein, auf zahlreiche Stimmen hoffen. Auch Barbara Hirsbrunner («bisher Stv.») ist unter den Kandidatinnen zu finden. Sie will «für Klima und Fortschritt» einstehen. Etwas abseits der vielen Plakate in einem separaten Infokasten aus Metall finde ich die Angebote der Kirchgemeinde. Wer Ostern kenne, könne nicht verzweifeln, wird der Theologe Dietrich Bonhoeffer zitiert.

Turm und Linde. Ich höre zwei Kinder munter plaudernd näherkommen. «Frau Hirsbrunner geht heute auf den Turm», sagt ein Mädchen mit geflochtenem Haar und rotem T-Shirt. Sie habe gesehen, wie die Religionslehrerin den Turmschlüssel im Pfarrhaus geholt habe. Die beiden Mädchen hüpfen davon. «Nein, in einem Dorf bleibt nichts geheim», wird mir Barbara Hirsbrunner kurz darauf sagen. Und ja, tatsächlich führe sie alle Schülerinnen und Schüler auf den Turm, einmal in der 3./4. Klasse, ein zweites Mal am Ende der Primarschulzeit, um mit Rimuss auf die bevorstehende Sommerferienzeit anzustossen. Die Kinder sollen dadurch einen Bezug zur Kirche bekommen und zugleich den Weitblick ins Tal erleben. Bevor sie auch mich hochführt, weist Hirsbrunner auf die Linde zwischen Schulhaus und Kirche hin. Das sei die älteste Linde der Schweiz, sie stamme aus dem zwölften Jahrhundert. Vermutlich zumindest, denn die Linde hätte Krebs gehabt, weshalb sie ausgehöhlt worden und das genaue Alter heute nicht mehr feststellbar sei. Einst jedoch, und das sei eindeutig überliefert, hätten die Versammlungen der Dorfvorsteher darunter stattgefunden.

Ort des Weitblicks. Die Treppen im Turm sind schmal und steil, die Beleuchtung spärlich. Barbara Hirsbrunner führt mich Stockwerk um Stockwerk nach oben, dann und wann wischt sie mit einem Handbesen Spinnennetze weg. Auf halbem Weg macht sie vor einem Holzkasten Halt. Darin ist das Uhrwerk mit den metallenen Zahnrädern zu sehen. Zwei Drahtseile führen aus dem Kasten nach oben. 13.25 Uhr: Gleich werde die Schulglocke läuten, die kleinste der Glocken im Turm. Sie läute nach wie vor zum Schulbeginn, obwohl die Schule längst eine eigene Glocke habe. Wir steigen weiter hinauf, auf immer steileren Treppen, dann schiebt Hirsbrunner einen Holzdeckel zur Seite. An den Stahlträgern des Glockenstuhls vorbei gelangen wir nach den letzten Metern hoch ans Licht. Hier endlich geben die alten Steinmauern den Blick frei: Das Domleschg mit seinen Dörfern, Burgen und Schlössern, die Psychiatrische Klinik, die Strafvollzugsanstalt und die Autobahn – alles liegt einem hier zu Füssen.

Von Kloten ins Bündnerland. Gerade mal zehn Jahre alt war Barbara Hirsbrunner, als sie von Kloten nach Churwalden kam. Seit knapp dreissig Jahren wohnt sie in Scharans. Schon Grossvater Gion Tumasch lebte hier, er sprach ein Romanisch , das heute in Scharans kaum noch gesprochen wird, nur die Flur- und Strassennamen zeugen noch davon. Barbara Hirsbrunner lehnt über die Mauer und blickt hinunter auf die Dächer. Ob denn in Scharans die Kirche noch im Dorf sei, will ich von ihr wissen. Ja, sie stehe mitten im Dorf, und Gäste kämen von weit her, um die Kirche, in der Jenatsch einst gepredigt habe, zu besichtigen. Um die einheimische Bevölkerung besser zu erreichen, sei die Kirchgemeinde daran, mehr «Geh-Struktur» aufzubauen. So beispielsweise beim Projekt CineSinn, ein Kinoprojekt, welches Barbara Hirsbrunners und der Pfarrerin Liebe zum Film entsprungen sei. Demnächst wird Women gezeigt, ein Film des französischen Fotografen und Filmemachers Yann Arthus-Bertrand und der ukrainischen Journalistin Anastasia Mikova über Ungerechtigkeiten, denen Frauen weltweit ausgesetzt sind. Weitere Projekte mit «Geh-Struktur» seien das Geschichtenzelt für Kinder im Vorschulalter oder das Schlafen in der Kirche für Kinder der 5./6. Primarklasse. «Singen, lachen, leben, Geschichten hören und basteln – ja, da ist die Kirche im Dorf».

Der Stundenschlag ist ohrenbetäubend. Als es wieder ruhig wird und sowohl der Wind als auch das Dorfleben wieder hörbar sind, nimmt Barbara Hirsbrunner das Gespräch wieder auf. Die Kinder würden sich später an solche Erlebnisse erinnern. Auch an vieles, was sie im Rahmen des Religionsunterrichts kennengelernt hätten. Es sei ein grosses Privileg, Kindern in aller Freiheit eine biblische Geschichte erzählen zu dürfen und mit ihnen über Fragen des Glaubens und über  das Woher und Wohin zu philosophieren. Wie denn die religiöse Sozialisation bei ihr verlaufen sei, will ich wissen. Als Kind habe sie die Sonntagsschule besucht – es war ein Angebot der reformierten Kirchgemeinde. Zugleich habe sie auch die Welt der Freikirchen kennengelernt. Ihre Grosseltern zum Beispiel hätten in der Heilsarmee mitgemacht und «Bäsi Fiedi» sei eine «absolut fromme Frau» gewesen. Noch heute erinnert sich Barbara Hirsbrunner daran, wie ihre Grosstante hinter dem Ofen inbrünstig gebetet hat. Vielleicht sei damals das Verständnis für unterschiedliche christliche Gemeinschaften und Frömmigkeitsstile in ihr gewachsen – eine wichtige Voraussetzung für ihr späteres Wirken als Kirchenrätin und Leiterin des Departements Mission, Ökumene, Diakonie.

Menschen für Kirche Einbinden. «Ich möchte Menschen zusammenbringen» – so fasst Hirsbrunner ihre Motivation zusammen. Und so versuche sie immer wieder, Leute in Projekte einzubinden: Auf Gemeindeebene für den Suppenzmittag, den Weltgebetstag der Frauen oder den jährlichen Gottesdienst mit Kindern aus dem Kinderheim Scalottas. Auf kantonaler Ebene für den interreligiösen Dialog, das Pfingstprojekt, die Missionssynode oder für das Thema Migration. Zur Kirche kam Barbara Hirsbrunner, weil der Dorfpfarrer auf sie zukam und sie fragte, ob sie nicht die Ausbildung zur Fachlehrperson Religion machen und an der Schule Religionsunterricht erteilen wolle. Die Anfrage kam ihr gerade gelegen, denn als ausgebildete Pflegefachfrau hätte sie nach der Familienzeit zwar ins Spital zurückgehen können, doch die für eine Rückkehr erforderlichen drei Monate Vollzeit-Tätigkeit seien für sie damals nicht möglich gewesen. Und so hätte sie dem Pfarrer keine Absage erteilen wollen, bevor sie es nicht ausprobiert habe. Genau davon lebe Kirche. Sie sehe, wie viele bereit sind, sich auf ganz unterschiedlichen Bühnen einzubringen, egal ob sie dieses Engagement nun Solidarität nennen oder Nächstenliebe.

Nach Jahren des Engagements in Kirchgemeinde, Kantonalkirche und EKS ist für Barbara Hirsbrunner auch klar: Kirche ist nicht Kirche, wenn sie nicht für andere da ist. Nur im Einsatz für andere werden Kirchen relevant sein. Für solche Relevanz setze sie sich ein, sowohl in der Gemeinde als auch im Kirchenrat und in Zusammenarbeit mit NGO’s. Es werde viel aufs Wort gesetzt in der reformierten Kirche, sagt sie nachdenklich, doch letztlich brauche es beides, Wort und Tat – vielleicht sogar erst die Tat und dann das Wort. Mit viel Energie hat sie sich deshalb für das Pfingstprojekt stark gemacht, für das Bündner Forum der Religionen oder auch für die Anliegen der Diakonie. Hirsbrunner ist Bündner Delegierte in der EKS, sie sass auch im Untersuchungsausschuss zur Aufarbeitung der Ereignisse rund um deren ehemaligen Präsidenten und sie war Stiftungsrätin von Brot für alle. Dass die Bündner Kirche vom 5.–12. Juni  Gastgeberin für die internationale Missionssynode von Mission 21 sein darf, empfindet sie als grosse Ehre.

Sensibilisiert für Umweltthemen. Ihr letztes Projekt als Kirchenrätin werde ein Umweltprojekt sein, sagt Hirsbrunner. Es gehe ihr um die «Bewahrung der Schöpfung», denn auch in dieser Beziehung sei ein Umdenken in der Kirche nötig. Es brauche ein neues Bewusstsein beim Heizen der Kirchengebäude, aber auch, als kleines Zeichen, den Verzicht auf Einweggeschirr bei Veranstaltungen. «Wenn ich sehe, was in diesem Bereich noch alles gemacht werden könnte, bekomme ich Lust, aktiv zu werden». So verschieden die Projekte sind, eines wird klar: Es macht ihr Freude, Neues zu gestalten. «Die eigene Handschrift reinlegen», nennt sie dies. Ob das speziell auf kirchliche Bedürfnisse angepasste Umweltmanagement Der Grüne Güggel das Ziel sein wird, ist für sie im Moment offen. Auf jeden Fall will sie herausfinden, was in diesem Bereich machbar ist, sie will Zusammenhänge verstehen, Möglichkeiten erkunden und Kontakte knüpfen.

14.30 Uhr: Es ist Zeit, vom Turm hinunterzusteigen. Denn für heute Abend ist erst einmal Schlafen in der Kirche angesagt. Barbara Hirsbrunner wird in den Dorfladen gehen und Verpflegung für die sieben Schülerinnen und Schüler einkaufen: Ein «Bettmümpfeli» vor dem Einschlafen, Müesli und Joghurt fürs Frühstück. Auch ein Bettmümpfeli darf nicht fehlen. Am Abend, wenn die Kinder in ihren Schlafsäcken im Chor liegen werden, wird Barbara Hirsbrunner auf der Kirchenbank sitzen und im Licht der Stirnlampe eine Geschichte vorlesen. Vielleicht Cornelia Funke, vielleicht die Fabel vom Stinktier in der Arche Noah. Die Heizung der Kirche wird sie frühzeitig abstellen, diesmal nicht des Energiesparens wegen, sondern damit das Knarren des Gebälks nicht den Kirchenschlaf stört.

Stefan Hügli
Kommunikation

Barbara Hirsbrunner ist Fachlehrperson Religion und Kirchenrätin. Sie leitet das Deparatement Mission, Ökumene, Diakonie.