15.6.2024

Gespräch mit Ratspräsident Michael Pfäffli

Michael Pfäffli, ein Sprichwort besagt, dass das Gras nicht schneller wächst, wenn man daran zieht. Als Politiker, Unternehmer und Leiter einer Gärtnerei können Sie dem sicher zustimmen? 
Das stimmt, ja. Wobei der beste Verbündete des Gärtners nicht die Zeit ist, sondern das Unkraut: Es schafft Arbeit.

Was macht Ihrer Meinung nach einen guten Gärtner aus? 
Ein guter Gärtner besitzt ein wesentliches Verständnis für die Natur, die Elemente, das Wetter und die Jahreszeiten. Zum Beispiel kann man jetzt, in der ruhenden Jahreszeit, einen Baum ver- pflanzen. Wenn der Baum bereits im Wachstum ist, wäre das sowohl ihm als auch dem Auftraggeber gegenüber unverantwortlich.

Und einen guten Politiker? 
Ein guter Politiker ist vor allem sich selbst gegenüber verpflichtet. Ich bin seit 20 Jahren in der Bündner Politik tätig und habe bewusst keine Verwaltungsratsmandate angenommen – mit Ausnahme des eigenen Betriebs. Mein Ziel war es, meinen eigenen Werten zu folgen und nicht von einer Person abhängig zu sein, die mir ein Honorar zahlt.

Sie haben einst Rechtswissenschaften in St. Gallen studiert. Wie kommt es dazu, dass ein Jurist einen Gärtnereibetrieb übernimmt?
Nach meinem Jurastudium hatte ich Aussicht auf eine Stelle in der Rechtsabteilung der ehemaligen Bank Leu. Gleichzeitig stand mein Vater kurz vor der Pensionierung und suchte nach einer Nachfolgelösung. Zur Überbrückung arbeitete ich als Aushilfe in der Gärtnerei und merkte bald, wie meine Freude am Unternehmertum immer mehr wuchs. 1996 habe ich schliesslich den Betrieb übernommen, kurz bevor mein Vater verstarb. Ich musste das Gärtnerische hauptsächlich durch praktische Erfahrung erlernen und entspre- chend Fachleute einstellen.

Pflanzen und Pflegen statt Büroarbeit?
Genau so. Der Betrieb, den mein Vater einst mit einem Moped, einem Anhänger und einer Werkzeugkiste gegründet hat, feiert dieses Jahr sein 60-jähriges Bestehen. Aufgrund der langen Winterzeit im Engadin begann mein Vater früh damit, neben der Gärtnerei auch Aufträge im Bereich Hauswartung, Schneeräumung und Reinigung anzunehmen. Noch heute ermöglicht diese Vielfalt 40 Mitarbeitenden einen ganzjährigen Arbeitsplatz. Unsere Spezialisierung reicht vom Setzlingsanbau bis zur Verpflanzung von grossen Bäumen.

Und haben Sie die Entscheidung, die Juristerei aufzugeben, nie angezweifelt?
Nein, bis heute bereue ich diese Entscheidung nicht. Meine Ausbildung als Jurist hat mir auch in der Politik und ein wenig im Geschäft geholfen, zum Beispiel, wenn eine Unterschrift besonders formell aussehen sollte. Ich setzte dann einfach das Kürzel „lic. iur.“ vor meinen Namen.

Die Arbeit eines Gärtners unterscheidet sich ziemlich von jener eines Politikers. Gibt’s dennoch Gemeinsamkeiten?
Egal ob Schreiner, Baumeister oder Lehrer – alle haben ihre Verantwortung gegenüber ihrem Beruf. Genauso ist es auch in der Politik. Ich bin kein Freund von Berufspolitikern, da sie nicht selbst erleben, wie die von ihnen verabschiedeten Gesetze konkret im Betrieb wirken. Aber klar, die Politik als Milizsystem, wie das in Graubünden der Fall ist, hat auch ihre Nachteile. Zum Beispiel die starke Beanspruchung durch die doppelte Tätigkeit.

Was bedeutet das konkret?
Es war für mich oft sehr herausfordernd, die unterschiedlichen Tätigkeiten unter einen Hut zu bringen. Es gab Zeiten, in denen ich – neben meiner eigentlichen Arbeit – gleichzeitig Gemeindevorstand von St. Moritz, Standespräsident und Präsident der PUK des Bündner Baukartells war – wobei viele Sitzungen in Chur stattfanden. Das war von St. Moritz aus betrachtet sehr aufwendig. Ohne meine Frau, die mich sehr unterstützt hat, wäre das nicht möglich gewesen.

Abgesehen von der Zeitknappheit: Wie hat das politische Engagement Ihre Sicht auf die Dinge geprägt?
Als Unternehmer versuche ich, die alte Ideologie des Patrons zu leben. In meinem Betrieb arbeiten einige Mitarbeitende seit knapp 40 Jahren. Bei manchen waren bereits die Eltern hier tätig und nun sind auch ihre Kinder und Ehepartner Teil des Betriebs. Dass es ihnen gut geht, betrachte ich als soziale Verantwortung, die ich als Unternehmer habe – neben der ökonomischen Verantwortung, die den Betrieb in die Zukunft führen muss.

Und woher kommt Ihr Engagement für die reformierte Kirche?
Ich bezeichne mich gerne als „der Kirche verbunden“, auch wenn ich mich selbst nicht als „kirchlich“ empfinde. Ich sehe einfach, wie die christliche Tradition eine wichtige Grundlage unserer Kultur bildet. Denken Sie zum Beispiel an Nabucco: Jemand, der keine Ahnung von der Bibel hat, versteht die Handlung dieser Oper nicht. Mein Engagement für die Kirche geht auf die Zeit zurück, als die Kirchgemeinde St. Moritz plötzlich ohne Präsidium dastand. Um eine Kuratel zu vermeiden und weil mir die Eigenständigkeit von St. Moritz ein Anliegen war, habe ich den Bitten um Übernahme des Präsidiums entsprochen. Rückblickend kann ich sagen, dass es eine spannende Zeit war, geprägt von Personalwechseln und Fusionsprozessen.

Das Oberengadin ist eine weltoffene und reiche Region. Weshalb braucht es da die Kirchgemeinden?
Im Oberengadin, wie in unserer Gesellschaft allgemein, geht das Gemeinschaftliche immer mehr verloren. Mir fällt zudem auf, dass vermehrt Ausgrenzungen stattfinden. Ich bin überzeugt, dass die für ihre offene Haltung bekannten reformierten Kirchgemeinden das Potenzial haben, das Gemeinschaftliche zu stärken, Menschen zu integrieren und gegen die Aufspaltung anzugehen – als Dienst an der Allgemeinheit. Die Herausforderung sehe ich darin, in diesem Engagement nicht müde zu werden, auch wenn dafür keine Pokale zu holen sind.

Kirche als verbindendes Netzwerk vor Ort?
Ja, sowohl vor Ort als auch im ganzen Kanton. Nehmen Sie zum Beispiel den Evangelischen Grossen Rat (EGR): Wir sind alles Reformierte, kommen aber beispielsweise aus dem Oberengadin, dem Avers oder der Bündner Herrschaft. Alle politischen Parteien sind vertreten, und das ist gut so. Wir alle sind nicht der Interessenvertretung wegen dort, sondern weil wir die reformierte Kirche pflegen und weiterentwickeln wollen. Da ist wieder dieses Gemeinschaftliche. Das Gleiche gilt auch für die Kirchgemeinden: Wir haben Kinder, Jugendliche, Seniorinnen und Senioren, auch verheiratete Pfarrpersonen und gleichgeschlechtliche Paare, sie alle sind willkommen bei uns und Teil des Gemeindelebens. Alle sollen sich bei uns wohl fühlen – das ist mir als liberalem Politiker wichtig.

Das Kirchenratspräsidium war in den letzten Jahren in der Hand von sozialdemokratischen Politikerinnen und Politikern. Hat das Ihrer Mei nung nach die Kirchenpolitik geprägt?
Sowohl Andreas Thöny als auch Erika Cahenzli-Philipp haben nicht aus ideologischen Standpunkten her argumentiert. Das begrüsse ich sehr. Von den weiteren Mitgliedern des Kirchenrats weiss ich nicht einmal, welcher Partei sie angehören. Auch Fred Schütz, mein Vorgänger als EGR-Präsident, war von der SP. Im Ratsbetrieb spielt das aber keine Rolle, weil der Rat das Gemeinsame höher gewichtet als die Interessenvertretung. In diesem Sinne ist es ein Vorteil, dass es im EGR keine Fraktionen gibt.

Und worin sehen Sie die Stärke des EGR?
Die Stärke des EGR ist, dass es ihn als basisdemokratisches Organ der Bündner Kirche überhaupt gibt. Nicht der Kirchenrat bestimmt die Gesetze für die reformierte Kirche, sondern ein breit abgestütztes Parlament mit Delegierten aus Politik, Pfarrerschaft und den Regionen des Kantons. Ebenso läuft es bei finanziellen oder personellen Entscheiden. Anders als im politischen Grossen Rat ist mir ein Feilschen um Projekte so nicht in Erinnerung. Selbst beim Green Deal („Grüner Güggel“), der den Kirchgemeinden Unterstützung bei energetischen Sanierungen bietet, gab es kaum Anlass zu Diskussionen. Der EGR fühlt sich nicht den Parteiinteressen verpflichtet, sondern der Glaubensgemeinschaft der Reformierten im Kanton Graubünden.

… und den Steuerzahlenden…
Natürlich, das auch. Die öffentlich-rechtliche Organisation und die Steuergelder sind der Grund, weshalb wir als Reformierte überhaupt ein Parlament brauchen. Es soll verhindern, dass der Kirchenrat alleine im Hinterzimmer Entscheidungen trifft. Rechnung und Budget muss er dem EGR vorlegen.

Für zwei Jahre sind Sie nun Präsident des EGR. Welche Herausforderungen warten auf den Rat?
Der EGR hat in jüngster Zeit politisch an Bedeutung verloren. Er muss sich wieder stärker verankern, um so seiner Verantwortung angesichts knapper werdender Ressourcen gerecht zu werden. Zudem muss er jünger und weiblicher werden. Und ja, ich wünschte mir, dass die Mitglieder des EGR bisweilen aktiver wären und kritischer. Und dass sie noch selbstbewusster Hintergrundinformationen für anstehende Entscheide einforderten.

Als Mitglied des EGR waren Sie vor acht Jahren in der Kommission, welche die neue Kirchenverfassung massgeblich geprägt hat. Wie zufrieden sind Sie mit dem Ergebnis?
Es ist das Ergebnis dessen, was die Kommission damals als umsetzbar einschätzte. Heute denke ich, dass wir auch mutiger hätten sein können. Die Kommission wollte die Kirchgemeindemitglieder nicht überfordern.

Dennoch wurde manches modernisiert und die Terminologie in einigen Bereichen angepasst. Haben Sie als liberaler Politiker das Gefühl, dass überreguliert wurde?
Viele Kirchgemeinden werden in naher Zukunft mit knapperen finanziellen und personellen Ressourcen auskommen müssen. Es ist deshalb unabdingbar, dass der EGR sich Gedanken über den Finanzausgleich macht. Auch eine Software für die Mitgliederverwaltung erachte ich als absolut sinnvoll, ebenso die Rahmenbedingungen für die Digitalisierung. Im Oberengadin habe ich die gesetzgeberischen Regularien der reformierten Kirche nie als Einflussnahme aus Chur empfunden, sondern immer als Hilfestellung.

Was wird Ihnen als Ratspräsident wichtig sein?
Ich werde versuchen, in kurzen Eröffnungsreden bestimmte Themen anzusprechen, so wie ich dies auch als Standespräsident gemacht habe. Zudem habe ich mir zum Ziel gesetzt, den Parlamentsbetrieb so zu führen, dass er einen kompetenten Eindruck hinterlässt. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass der EGR gerade mal eineinhalb Tage lang tagt – pro Jahr! Die Erwartungen müssen also bescheiden sein.

Ende Juni findet im Oberengadin die Versammlung der Bündner Pfarrpersonen statt, zweieinhalb Monate später ein „Bundstag“ im Rahmen der 500-Jahr-Feier zur Entstehung des Kantons Graubünden. Was erwarten Sie von diesen Events?
Ich hoffe, dass wir der Bevölkerung des Oberengadins die Synode näherbringen können. Und umgekehrt sollen auch die Synodalen etwas von der Weltoffenheit dieses Hochtals spüren. Mit dem Bundstag können wir die Geschichte des Kantons erlebbar machen.

Eine letzte Frage: Unmittelbar neben Ihrer Gärtnerei liegt der Friedhof der Gemeinde Champfèr. Was prägt einen, wenn man sich so oft und so nahe an der letzten Ruhestätte aufhält?
Mich hat geprägt, dass mein Vater dort lange Jahre die Grabpflege übernommen hat. Deshalb habe auch ich mich immer wieder dort aufgehalten. Eines Tages sassen wir auf einer Bank und blickten auf die Gräber. Mein Vater meinte dann, er kenne mittlerweile auf dem Friedhof mehr Menschen als unten im Dorf. Das hat mich beeindruckt. Es wur de mir bewusst, welche Bedeutung ein solcher Ort für die Erinnerung hat.

Stefan Hügli
Kommunikation

Der Beitrag ist in DIALOGintern 2024-06 erschienen


Michael Pfäffli ist Präsident des Evangelischen Grossen Rats.