30.6.2024

Synodalproposition

Seit 20 Jahren ist Astrid Weinert-Wurster Pfarrerin für Menschen mit Behinderung. In ihrer Synodalproposition hat sie nun von ihren Erfahrungen gesprochen.

Zeichnungen, Videos und viele Erlebnisse aus der Praxis: Was Astrid Weinert-Wurster am Samstag in der Kirche Chamues-ch präsentierte, berührte. "Ich erlebe meinen Dienst als grosse Bereicherung", sagte sie und sprach über Erlebtes: viel Spontaneität, Unverkrampftheit, Ehrlichkeit und Hilfsbereitschaft. Einer von fünf Menschen in der Schweiz sei von Behinderung betroffen, 47 Prozent der über 85-Jährigen. Neun von zehn Schwangerschaften würden bei der Diagnose eines Down-Syndroms abgebrochen und Frauen mit einer Behinderung erlebten nicht selten sexualisierte Gewalt und müssten sich gegen eine doppelte Diskriminierung wehren.

Belastende Vergangenheit. Weinert zeigte auf, wie sehr sich die Begrifflichkeit und die gesellschaftlichen Deutungsmuster verändert haben. Beispielsweise sei vor dem 18. Jahrhundert gar nicht zwischen geistiger Behinderung und psychischer Krankheit unterschieden worden. Sie wies auf das Leid hin, das ab den 1920er-Jahren die Theorie der "Rassenhygiene" verursachte - mit traurigem Höhepunkt im Dritten Reich, als mehr als 200'000 Menschen mit geistiger Behinderung in Gaskammern, durch Injektionen oder durch Hungertod getötet wurden. In der Schweiz hätten bis ins 20. Jahrhundert Zwangssterilisationen von Mädchen und Frauen mit Behinderung stattgefunden. Abwehrformen aus solcher Vergangenheit seien noch heute nicht vollständig überwunden, so die Pfarrerin.

"Behinderung ist keine Krankheit", das hält Astrid Weinert-Wurster in ihrer Proposition immer wieder fest. Früher habe in Zusammenhang mit Behinderung oft das Defizit im Fokus gestanden, doch das habe sich glücklicherweise geändert. "Ja, Menschen mit einer geistigen Behinderung leben mit ihrer Behinderung, aber sie leiden nicht zwingend daran." Wenn Astrid Weinert-Wurster Religionsunterricht erteilt, Konfirmationen durchführt, Gottesdienste feiert oder Abschiede gestaltet, dann achtet sie darauf, dass sie in einfacher Sprache und ganzheitlich kommuniziert - mit Unterstützung von Gebärdensprache zum Beispiel. Sie lässt Kinder und Jugendliche einen Bibeltext selber erklären, wobei nicht selten sehr eigenwillige und originelle Sichtweisen entstehen. 

Erfahrungen mit allen Sinnen sind wichtig. Bei Gottesdiensten beispielsweise das Läuten der Glocken, das Orgelspiel, das Essen von Brot und das Trinken von Traubensaft beim Abendmahl. "Das Wort muss erfahrbar sein", sagte die Pfarrerin. Auch ein Rollenspiel könne helfen. Inspirationen für ihr Tun holt sich Astrid Weinert-Wurster beim Lesen  der Theologin Nancy L. Eiesland oder des Theologen Ulrich Bach – zwei Menschen, die selber im Rollstuhl lebten und ihr Erleben theologisch reflektierten. Bach etwa wurde nicht müde zu betonen, dass die ganze Schöpfung eine gute Schöpfung sei und dass die Würde und Gottesebenbildlichkeit allen Menschen gleich zukomme. Nein, Stärke sei nicht gottähnlich und Schwäche kein Makel. Jesu Botschaft gelte allen, ganz besonders den Armen, Marginalisierten, den Kranken und den Behinderten, sagte Weinert.

Der Einbezug von Menschen mit einer Behinderung könne auch das Leben von Kirchgemeinden bereichern. Voraussetzung sei jedoch, dass sich Gemeinden auf diese Erfahrung einlassen und solche Menschen als gleichwertige Partner behandelten. "Menschen mit Behinderung erleben in ihrem Leben den nicht verstehbaren Gott und die Brüchigkeit des Lebens in besonderem Masse". Das gelte es erst zu nehmen. Zum Schluss leitete sie die Synodalen zum Beten des "Unser Vaters" mit Gebärden an und riet, im Kontakt mit Menschen mit einer Behinderung eine einfache Sprache zu verwenden, nicht zu schnell zu sprechen und vor allem die Freude nicht zu vergessen. 

Stefan Hügli
Kommunikation