20.11.2025

«Ich habe in Abgründe geschaut»

Pfarrerin Marie-Ursula Kind hat vor dem Evangelischen Grossen Rat (EGR) in Chur über ihre Tätigkeit beim Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien gesprochen – und über ihren Weg ins Bündner Pfarramt. Im geschäftlichen Teil hat der EGR das Budget 2026 mit namhaften Beträgen für die Nachwuchsförderung bewilligt, die landeskirchliche Gesetzgebung an AHV 21 angepasst und den Beitritt zu einer digitalen Liedplattform und Servicestruktur beschlossen.

Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – in einem Referat gab Marie-Ursula Kind Einblick in ihre Arbeit am Internationalen Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Von 2000 bis 2010 war sie Anwältin im Team von Chefanklägerin Carla del Ponte. Tagtäglich war sie mit den Schicksalen von Opfern fürchterlicher Gräueltaten aus dem Bosnienkrieg konfrontiert und versuchte Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Sie sichtete Beweismaterial sowie Zeugenaussagen und arbeitete an Anklageschriften mit. «Ich habe in Abgründe geschaut», sagte Kind. Eine grosse Herausforderung habe darin bestanden, überhaupt erst einmal zu verstehen, was geschehen war und das Schweigen aufzubrechen. «Die Kriegsverbrecher der einen sind oft die Kriegshelden der anderen Seite des Konflikts.»

Beispiele aus dem Bosnienkrieg: Marie-Ursula Kind zeigt ein Bild der 1993 zerstörten Moschee von Ahmici. Beim Massaker in Ahmici wurden mehr als 100 Personen ermordet, darunter auch Frauen und Kinder. Dann projiziert sie das Bild eines Holzgewehrs. Mit solchen Attrappen hätten in Mostar Kriegsgefangene vor Panzer herlaufen müssen, damit sichtbar würde, wo geschossen wird und wo nicht. Im Zusammenhang mit dem Völkermord in Srebrenica 1995 wurden Massengräber entdeckt. Darin wurden Menschen mit auf dem Rücken gebundenen Händen gefunden. Zudem sei sexuelle Gewalt im Krieg ein Riesenthema bis heute, auch in Form von Versklavung junger Mädchen als Haushaltshilfen. Die Arbeit der Anklageteams bestand darin, in jedem der Fälle Überlebende zu finden, die bereit waren auszusagen, Protokolle zu studieren, unterschiedliche Aussagen gegeneinander abzuwägen, die Glaubwürdigkeit von Quellen einzuschätzen, aber auch dafür zu sorgen, dass Zeugen und Zeuginnen nach ihrer Aussage geschützt wurden.

Dass es durch die Arbeit des Internationalen Kriegsverbrechertribunals für das ehemalige Jugoslawien gelungen war, einzelne Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen, sei harte Arbeit gewesen, erinnert sich Kind. «Ich wollte mithelfen, Gerechtigkeit für die Opfer zu erreichen – zumindest ein kleines Stück.» So erfolgreich die Ermittlungsarbeit war, Marie-Ursula Kind hat auch erlebt, wie die Suche nach Gerechtigkeit Menschen überfordern und zynisch machen kann. «Man muss die Dinge angehen», ist sie überzeugt, doch selbst wo das nach gewaltsamen Konflikten getan werde, sei der Weg hin zu einer stabilen Gesellschaft sehr lang. Kind zeigt eine Grafik mit konzentrischen Kreisen: Keine Straflosigkeit und Prävention für Täter sei das eine, Rechtsstaatlichkeit und im besten Fall Versöhnung für die Opfer das andere. Dazu gehören auch Anstrengungen im Bereich der Wiedergutmachung, der Wahrheitsfindung und des Wiederaufbaus unabhängiger Institutionen. Nicht selten komme es auch vor, dass im Verlauf von länger andauernden bewaffneten Konflikten Opfer zu Tätern würden. Zentral in der Aufarbeitung dieser Art von Verbrechen seien politischer Wille seitens der Regierung und ein Engagement der ganzen betroffenen Gesellschaft.

Nach 10 Jahren Ermittlungsarbeit entschied sich Marie-Ursula Kind für eine Neuausrichtung und damit für QUEST, das Quereinsteigerstudium für Theologie. «Ich wollte vorausschauen statt zurückschauen». Heute ist sie Pfarrerin in St. Moritz. Die Frage nach Gerechtigkeit beschäftigt sie nach wie vor: «Gott sieht, wer Opfer ist, wer Täter», sinniert sie und unterstreicht die Wichtigkeit von Prävention und gesellschaftlicher Aufbauarbeit auch in der Schweiz. Den Pfarrberuf hat sie gewählt, weil sie den religiösen Institutionen viel zutraut. «Sie schaffen Raum für das «Unverfügbare» – und das bedeutet auch Raum für mehr Gerechtigkeit». Im Alltag ihrer Kirchgemeindearbeit ist ihr ein sorgfältiger Umgang miteinander wichtig – und genaues Hinsehen bei jeder Art von Ausgrenzung.

Im geschäftlichen Teil hat der EGR beschlossen:

  • Budget 2026. Die Kantonale Evangelische Kirchenkasse rechnet mit Ausgaben von CHF 13‘839‘984 und Einnahmen von CHF 13‘837‘530. Daraus resultiert ein Ausgabenüberschuss von CHF 2‘454. Erste Massnahmen gegen den Fachkräftemangel und zur Förderung der Jugend können umgesetzt werden: Nachwuchsförderung CHF 250'000, Unterstützung von Studierenden der Theologie CHF 135'000, Jugendarbeit CHF 140'000 und Religionspädagogik in der Schule CHF 238'000.
  • Anpassung an «AHV 21». Der EGR hat eine Teilrevision des Personalgesetzes, des Zulassungsgesetzes und der Weiterbildungsverordnung beraten und verabschiedet. Damit wird das landeskirchliche Recht an die AHV-Gesetze des Bundes angepasst. Von der Teilrevision profitieren auch die Gemeinden – zum Beispiel durch mehr Spielraum bei der Weiterbeschäftigung von Mitarbeitenden ab 65 Jahren.
  • Gesangbuch goes digital. Der EGR hat einen Betrag von CHF 27'000 für den Beitritt zu einer «digitalen Liedplattform und Servicestruktur» bewilligt. Ziel ist, dass Kirchenlieder künftig auch ab Tablet und Smartphone gesungen werden können – ergänzend zum Gesangbuch. Koordiniert wird das Projekt durch die Deutschschweizer Liturgie- und Gesangbuchkommission in Zusammenarbeit mit der Katholischen Kirche.
  • Ersatzwahl GPK. Als Nachfolger für den scheidenden Rico Stiffler wurde Peter Engler, Davos Dorf, für die Amtsdauer bis 2026 in die GPK gewählt. 

Stefan Hügli
Kommunikation


Bild: «Wir haben Tag und Nacht gearbeitet.» Anwältin Marie-Ursula Kind, heute Pfarrerin in St. Moritz.
Foto: Stefan Hügli