15.6.2024
Begegnung mit Gisela Rade
Wenn Gisela Rade den mit „Fibi“ beschrifteten Lederkoffer aufschliesst, tut sie dies mit der Zärtlichkeit einer Mutter, die gerade die Tür zum Kinderzimmer öffnet, um zu nachzusehen, wie es dem schlafenden Kind geht: Sie löst die Schnalle, hebt den Deckel behutsam an und schaut durch den schmalen Spalt. „Das ist Fibi“, sagt sie. Die Handpuppe aus Stoff und Watte erwacht zum Leben: Sie hat schwarze Haare, kräftige Hände und trägt ein gelb-blau kariertes Hemd sowie eine lustig geringelte Hose. „Wer ist dieser Mann?“, fragt Fibi im Gemeindesaal von Chur Masans. Gisela und Fibi kennen sich gut, sehr gut sogar. Fibi nimmt auf Gisela Rades Schoss Platz und mustert mich mit grossen Augen. Alles, was nun gesagt wird, wird auch von Fibi kommentiert – jede Frage, jede Bemerkung, mal vorwitzig, mal nachdenklich, ein lebhafter Austausch von Worten und Gedanken.
Gisela Rade ist Lehrerin. Sie absolvierte ihre Ausbildung am Lehrerseminar in Langenthal („im letzten Jahr, als es dieses noch gab“), unterrichtete ein Jahr lang an der Oberstufe in Goldiwil und liess sich dann an der Swiss Musical Academy in Bern in den Bereichen Theater, Sologesang und Tanz ausbilden. Ihr Ziel war nicht die grosse Bühne, sondern das kirchliche Leben in einer Gemeinde. Hier wollte sie ihre Kreativität und ihr musikalisches Talent einbringen. Schon als Teenagerin hatte sie in der Sonntagsschule das Weihnachtsspiel organisiert. Gisela Rades Wohnort wechselte, die Leidenschaft blieb: In Saas im Prättigau, mittlerweile Pfarrfrau, Religionslehrerin und später Mutter, gründete sie eine Roundabout-Gruppe und brachte mit der Dorfschule Stücke wie „Die Zeller Weihnacht“ und „Der vierte König“ auf die Bühne. Sogar ein eigens angefertigtes Marionettentheater wurde vom Dorfschreiner gebaut.
Mit Geschichten gross geworden. Was sie an der Arbeit mit Kindern schätze, wollte ich wissen. Fibi schaut erstaunt erst zu mir und dann zu Gisela Rade hoch. „Ich mag die Echtheit der Kinder, das Direkte und Spontane“, sagt Rade. Zudem sei sie sehr kritisch sich selbst gegenüber. Bei Kindern jedoch wisse sie immer, woran sie sei. Und ja, sie wolle den Kindern von Jesus erzählen, ihnen zeigen, wie schön es sei, im Vertrauen auf Gott den Alltag zu gestalten. Während Rade spricht, streichelt sie Fibi liebevoll, lässt sie mal die Lippen zusammenpressen oder verträumt im Raum umherschauen. Gisela Rade und die Stoffpuppe sind eins und doch auch gegensätzlich. Wenn Fibi etwas nicht versteht, fragt sie nach, und Gisela Rade lässt sich auf ein Gespräch mit der Puppe ein. „Ich habe es geliebt, Geschichten von meiner Grossmutter erzählt zu bekommen – biblische Geschichten genauso wie Märchen.“
Nach dem Wechsel von Rades nach Chur eröffneten sich neue Möglichkeiten. Gisela engagierte sich freiwillig in Familiengottesdiensten, Kleinkinderfeiern und im Kinderlager. Nach einer dreijährigen Anstellung bei der Singschule Chur für Musikalische Grundschule und ELKI-Singen, wurde sie in der Kirchgemeinde angestellt. Sie erweiterte ihr Engagement auf den „KiK Masans“, die neu gegründete „Schtrialibandi“ und den Religionsunterricht. Doch ihr Lieblingsjob sei und bleibe das Puppenspiel. Mit Fibi zu reden, falle ihr leicht; wenn sie die Dialoge bisweilen im Voraus schriftlich entwerfe, sprudelten die Ideen nur so aus ihr heraus. „Fibi bin ich – sie ist meine unbeschwerte Seite“, sagt Rade. Doch die Puppe habe auch ein Eigenleben. Sie dürfe alles fragen und müsse nicht fürchten, sich zu blamieren. „Wir gehören zusammen, oder?“ fragt sie, und Fibi nickt verlegen.
Raum für Künstlerisches. Auch in der Musik fühlt sich Gisela Rade zu Hause. Sie singt im Bach-Chor, beteiligt sich an Musicalproduktionen von Maya Heusser in Schiers. Sie ist fest davon überzeugt, dass Kunst wichtig ist für die persönliche Entwicklung und das seelische Gleichgewicht sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter. Besorgt ist sie über den jüngsten Entscheid der Stadtschule Chur, wo- nach ab dem Schuljahr 2024/25 unter anderem der Religionsunterricht nur noch am Nachmittag anzubieten sei. Das bringe Probleme, sagt Rade: Die Kirchgemeinde könne nicht genügend Lehrpersonen stellen, und diese selbst hätten nicht genügend Stunden, um davon leben zu können. Die Schule habe sich für eine „Umverteilung“ entschieden, so Gisela Rade. Begabtenförderung werde höher gewichtet als der Religionsunterricht. Dadurch komme die breite Bildung zu kurz.
Rades Wunsch, kreativ und musisch mit Kindern zu arbeiten, tut das keinen Abbruch. Im Rahmen der KiK-Veranstaltungen will sie Kinder und Familien zum Singen anleiten. „Nicht brümmele“, sagt sie, „sondern etwas machen aus einem Lied“. Mit Instrumenten zum Beispiel oder Bewegungen. „Eigentlich ist es genau das, was ich mir einst erträumt habe“, sagt Gisela Rade, „Gott und den Menschen dienen mit dem, was ich gut kann“. Dann geht’s vom nüchternen Gemeindesaal durch ein Labyrinth von Gängen weiter zum Fototermin im Pfarrgarten. Auch Fibi kommt selbstverständlich mit. Gemeinsam posieren Gisela und Fibi auf der Treppe, am Gartentor und vor dem Blumenfeld. Sie lachen in die Kamera, und ihre Fröhlichkeit steckt an.
Stefan Hügli
Kommunikation
Der Beitrag ist in DIALOGintern 2024-06 erschienen.
Bild: Gisela Rade. Sie ist Primarlehrerin und mitverantwortlich für die KiK-Angebote der Kirchgemeinde Chur.