16.12.2024

Gespräch mit Kirchenrätin Raphaela Holliger

Der 5. Juni dieses Jahres war ein grosser Tag für dich: Du wurdest sowohl in den Schulrat des Bildungszentrums Gesundheit und Soziales (BGS) Chur als auch in den Kirchenrat gewählt. Warst du überrascht, dass es an beiden Orten geklappt hat?
Ich habe es mir gewünscht und war gleichzeitig sehr erfreut. Es sind zwei sehr schöne und sinnstiftende Ämter. Dass ich gewählt wurde, ist mir eine grosse Ehre, und ich freue mich darauf, mich in beiden Bereichen aktiv einzubringen. 

Du bist die Nachfolgerin von Frank Schuler. Was hat dich zur Kandidatur bewogen?
Pfarrerin Hannah Thullen aus Davos hat mich auf den freiwerdenden Kirchenratssitz auf-merksam gemacht und gefragt, ob das nicht etwas für mich wäre. Tatsächlich sind Religion und Glaube wichtig in meinem Leben, und gerade die christlichen Werte werden immer wichtiger im Hinblick auf unsere Gesellschaft und das Weltgeschehen. Christliche Werte wie Nächstenliebe, Friedfertigkeit, Hoffnung, Vergebung, Demut und Loyalität sind meiner Meinung nach das Fundament für eine gesunde und stabile Gesellschaft, doch ich habe den Eindruck, dass sie Gefahr laufen, verloren zu gehen. In meinem Amt als Kirchenrätin möchte mich auch für die Rückbesinnung auf die christlichen Werten engagieren. Was Frank Schuler betrifft: Er ist eine absolute Koryphäe. Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um ihm eine würdige Nachfolgerin zu sein.

Gab es in deinem Umfeld Reaktionen auf die Wahl?
Ja, die haben sich gefreut. Mein Mann und meine Eltern haben mich sehr darin bestärkt, mich zu bewerben. Mein Grossvater war Kirchgemeindepräsident in Sils, und meine verstorbene Grossmutter war eine sehr gläubige Frau, auch sie wäre stolz gewesen. 

Wer nach dir googelt, stellt fest, dass du neben deinem Beruf als Juristin in ganz unterschiedlichen Kontexten engagiert bist: für das BGS, die Spitex Chur, das Evangelische Pflege- und Altersheim Thusis sowie für die Sektion Chur des Schweizer Verbands der Polizeibeamten. Du warst auch Co-Präsidentin der Jungfreisinnigen Partei. Wie passt das alles zusammen?
Meine Engagements stehen grösstenteils in Verbindung mit dem Gesundheitswesen. Was mich an diesen Ämtern reizt, ist nebst dem Bezug zum Gesundheitswesen das interdisziplinäre Arbeiten. Dadurch kann man viel lernen, da aufgrund der unterschiedlichen Ausbildungen und Hintergründe ganz verschiedene Sichtweisen vertreten sind. Das gefällt mir auch an der Juristerei. Gerade bei komplexen Sachverhalten sind wir auf Gutachten und Spezialisten aus anderen Branchen angewiesen.  

Interdisziplinär ist auch deine Dissertation über postmortale Organspende – sie behandelt rechtliche, medizinische und ethische Aspekte.
Ich fand es spannend zu sehen, wie bei der Organspende Medizin und Recht ineinandergreifen. Ich habe nach «Strafbarkeitslücken» geforscht, weshalb der Schwerpunkt auf den rechtlichen Aspekten lag. Aber es gibt auch einen grossen medizinischen und ethischen Teil.

Für Leute, die dich gar nicht kennen: Wer ist Raphaela Holliger?
Ich bin ein sehr unkomplizierter Mensch, der grossen Wert auf den Austausch mit anderen legt, ebenso wie auf Familie und Freunde. Offenheit ist mir wichtig, aber auch Loyalität – sowohl beruflich als auch privat. Zudem mag ich eine gewisse Lockerheit und eine grosse Prise Humor.

Du bist Rechtsanwältin mit Spezialisierung im öffentlichen Recht. Was fasziniert dich an der Juristerei?
Ich wollte schon als Kind Anwältin werden. Wenn man das Recht versteht, ist man unabhängiger. Es ist ein Grundverständnis dafür, wie der Staat aufgebaut ist und wie die Politik funktioniert. Das hilft in vielen Bereichen. An Rechtsfragen interessiert mich, dass es oft nicht nur schwarz oder weiss gibt – es ist häufig eine Auslegungssache. Und dann spielt auch das Zwischenmenschliche eine Rolle, bei schweren Konflikten ohnehin. Manchmal ist es sogar so, dass wenn der zwischenmenschliche Konflikt gelöst ist, sich auch das Rechtliche klärt. Deshalb versuche ich in den meisten Fällen, am Tisch eine Lösung zu finden. Das finde ich faszinierend.

Gesundheit, Bildung, Wirtschaft – das sind drei Schwerpunkte, mit denen du oft zu tun hast. Eine starke Wirtschaft schafft Arbeitsplätze. Sie ist die Grundlage für ein ausgebautes Sozialwesen, eine gute Infrastruktur, für Bildung und auch für die Förderung der Randregionen – kurz: für das, was wir Wohlstand nennen. Was kann die Kirche dazu beitragen?
Für die Kirche ist es eine sehr schwierige Zeit. Zum einen gibt es strukturelle Probleme wie das Alter der Pfarrpersonen, die Anzahl der Austritte, aber auch sinkende Zahlen bei den kirchlichen Amtshandlungen. Das sind grosse Herausforderungen. In Sils beispielsweise gibt es eine Kura-torin, weil der gesamte Kirchgemeindevorstand zurückgetreten ist. Zudem ist es sehr schwierig, eine Pfarrperson zu finden. Der Personalmangel macht auch vor der Kirche nicht Halt. Die Frage ist, wie in Zukunft damit umgegangen werden soll. Wichtig ist meiner Meinung nach, klar und deutlich zu kommunizieren, dass Kirche nicht nur Gottesdienst ist. Die Kirche beinhaltet viel mehr, beispielsweise Freiwilligenarbeit, Seelsorge, karitative Projekte und Bildung.

Wie beurteilst du die Rolle der Kirche in der heutigen Gesellschaft?
Früher gingen die Menschen in die Dorfkirche, auch weil sie ein Ort der Begegnung war. Man zog sich schön an, ging hin, traf Leute und nahm sich Zeit. Das ist heute weggefallen. Vielleicht haben Vereine ein Stück weit diese Rolle übernommen, mag sein. Die Mobilität hat uns mehr Möglichkeiten gebracht, und dank Internet und sozialen Medien stehen wir vernetzter in der Welt. Die Kirche sollte das meiner Meinung nach nicht nur als Gefahr sehen, sondern auch als Chance. Ich bin kürzlich auf ein Projekt der Reformierten Landeskirche St. Gallen gestossen, wo ein Contest unter Bands neue Musik in die Kirche bringen will. Die Sache läuft über die sozialen Medien, und als Gewinn winkt ein Videodreh. Ich finde das ein sehr spannendes Projekt für junge Menschen. Ebenso wichtig ist es, Angebote für junge Familien zu schaffen, damit sie sich aktiv entscheiden, ihre Kinder taufen zu lassen oder kirchlich zu heiraten. Das geschieht immer weniger, weil vielen der Bezug fehlt.

Wo siehst du Chancen?
Gerade in Zeiten der Instabilität, des Krieges und der Unsicherheit braucht es Gefässe, die Menschen auffangen und das Zusammensein fördern. Eine Chance sehe ich auch bei den Werten, die aus dem Glauben hervorgehen. Sie verkörpern etwas, das sich viele Menschen wünschen würden.

Werte also und gesellschaftlicher Zusammenhalt. Gibt es eine spezifisch junge Perspektive dazu?
Ich habe kürzlich geheiratet, erst zivil, dann kirchlich. Für mich war das sehr wichtig. In der reformierten Kirchen muss es aber auch Platz geben für jene, die nicht an Gott glauben, sondern einfach an das Gute im Menschen oder die christlichen Werte. Das schafft Vielfalt! 

Ab dem 1. Januar 2025 wirst du Kirchenrätin sein. Was reizt dich an diesem Amt?
Bei allen Ämtern, die ich ausübe, frage ich mich Zweierlei: Erstens: Ist es sinnstiftend für mich? Und zweitens: Gibt es einen Mehrwert für die Gesellschaft? Wofür willst du dich stark machen? Mir ist wichtig, dass eine Besinnung auf christliche Werte stattfindet und dass das Image der Kirche sich positiv verändern kann. Die Kirche hat eine bedeutende Aufgabe in der Gesellschaft, und dies sollte den Menschen auch bewusst sein.

Du wirst das Departement Strukturelles und Rechtsfragen leiten. Dabei wirst du die Umsetzung des Kirchgemeindegesetzes begleiten, Gemeinden und den Kirchenrat in Rechtsfragen beraten, bei Bedarf eine Kuratel einleiten sowie die Gesetzgebungsarbeit nach aussen vertreten. Mit welcher Haltung wirst du das tun?
Meine Haltung ist eine liberale. Das bedeutet für mich, andere Meinungen zu akzeptieren. Es ist eine wichtige Fähigkeit, sich eine Meinung anhören zu können, ohne gleich zu werten. Respekt ist für mich eine Selbstverständlichkeit, unabhängig von der geäusserten Meinung.

Das Papier mit den strategischen Leitlinien des Kirchenrats beginn mit dem Motto: «Christlich engagiert – vielfältig, sinnstiftend, lebensnah». Was bedeuten die einzelnen Begriffe für dich?

«Christlich engagiert»: Das heisst für mich, im Sinne der Nächstenliebe zu handeln, hilfsbereit und vergebend zu sein. Dazu zählen auch Loyalität und eine gewisse Demut.

«Vielfältig»: Vielfältig bedeutet für mich, jede Person so zu akzeptieren, wie sie ist – unabhängig von Glaubensüberzeugungen. Es bedeutet zudem, dass jede und jeder in unserer Gemeinschaft Platz hat.

«Sinnstiftend»: Das ist für mich der Grund, weshalb ich mich als Kirchenrätin beworben habe. Ich weiss, dass viel zurückkommt, wenn man sich für ein Thema, das der Gemeinschaft zugutekommt, stark macht. Sei es im Kleinen, in der Familie oder in der Kirchgemeinde.

«Lebensnah»: Ich wünsche mir einen Glauben, der alltagsnah und greifbar ist. Das, was wir tagtäglich leben, ist Teil der Religion, und Religion ist Teil unseres Lebens.

Stefan Hügli
Kommunikation

Der Beitrag ist in DIALOG intern 2024-12 erschienen


Raphaela Holliger wohnt in Sils i. D. und ist Kirchenrätin ab 1. Januar 2025