"Glücklich mit der neuen Lösung"

Die Feriensiedlung Talvangas liegt fünfzehn Gehminuten oberhalb von Parsonz. Hier wohnt Helmut Andres in einem sonnendunklen Chalet mit roten Fensterläden und direktem Anschluss an die Skipiste. Im Garten stehen drei Fichten, ein kleiner Whirlpool und eine Modelleisenbahn, Spur G. Noch sei die Bahn aufgrund des vielen Schnees vom vergangenen Winter nicht betriebsbereit, erklärt der Mittfünfziger und zeigt mir in einer Gartenkiste die Lokomotiven und Wagen. Auch der Bahnhof Tiefencastel ist noch abgedeckt, nur vor dem Bahnhof Susch auf der Sonnenseite des Gartens steht der Bahnhofvorstand an den Gleisen und winkt in blauem Jackett. Er steht bereit, damit die Züge ihre Reise um Haus und Garten antreten können. Sie werden dabei über das Viadukt von Brusio fahren, das kreisrund und solid verankert im unteren Teil des Gartens steht. Andres führt mich zwischen den Gleisen hindurch. Wir begeben uns ins Haus.

Vom Kolloquium zur Kirchenregion. Parsonz und Brusio hätten bis im Dezember vergangenen Jahres noch zum selben Kolloquium gehört, erklärt Helmut Andres und heisst mich im Oberhalbstein willkommen. Bis Ende 2020, als das Oberhalbstein noch mit dem Engadin, dem Bergell und dem Puschlav zusammen das Kolloquium VII bildete, sei er für eine Sitzung nicht selten 100 Kilometer und mehr gefahren: Fand diese in Brusio statt, führte die Reise über den Julier- sowie den Berninapass und das ganze Puschlav hinunter. «Weite Wege gibt es in den Bergen immer», sagt Andres, aber das Kolloquium VII war das weitläufigste der Bündner Kirche. Kam hinzu, dass Konflikte aufgrund sehr unterschiedlicher Bedürfnisse und Gemeindegrössen unvermeidlich waren. «Wir hatten uns einfach nicht so recht aufgehoben gefühlt», erinnert sich Andres. Als im Zuge der Umsetzung der neuen Verfassung die Gemeinden vom Kirchenrat aufgefordert wurden, ihre regionale Zugehörigkeit zu überprüfen, war für ihn klar, dass eine passendere Lösung gefunden werden musste.

Heute ist Helmut Andres Präsident der neu gegründeten Kirchenregion Ela, welche das Albulatal und das Oberhalbstein umfasst. Es ist die kleinste von insgesamt zwölf Kirchenregionen mit gerade mal 1200 Mitgliedern. Wie ein überdimensioniertes V graben sich die beiden Täler in die Landschaft Mittelbündens. Andres klaubt ein Papier hervor. Er hat darauf die Region mit den Eckpunkten Bergün, Tiefencastel und Bivio eingezeichnet. Dazu, fast deckungsgleich, eine rote Fläche: der Parc Ela. «Jetzt sind wir klein», sagt Andres, «und ja, wir sind glücklich mit der neuen Lösung». Andres erzählt von der Loslösung und von der Fusion im Albulatal. Zwar hätte er gerne eine Region Mittelbünden mit noch weiteren Gemeinden gehabt. Doch das Interesse bei den Umworbenen blieb aus. Die Gründungsversammlung fand im «El Nido» in Filisur statt – die Teilnehmenden hätten an jedem grösseren Küchentisch Platz gefunden.

Bevor Andres in die Schweiz kam, arbeitete er in Mannheim als Anwalt mit familieneigener Kanzlei, die auf Gerichtsfälle in Zusammenhang mit dem Strassenverkehr spezialisiert war. Weshalb er sich für die Bündner Kirche engagiere, wollte ich von ihm wissen. «Weil ich da, wo ich wohne und lebe, auch Kontakt zur Bevölkerung haben will». Seit sieben Jahren wohne er hier. Unter Menschen zu sein, aufgehoben, das bedeute ihm viel. Er wolle dazu beitragen, dass die Möglichkeiten, die Kirche biete, auch genutzt würden. Und so kam‘s, dass Anwalt Andres gleich doppelter Präsident wurde: Präsident der Kirchgemeinde Bivio-Surses und der neuen Kirchenregion. Nein, er habe das nicht gesucht. Aber es habe sich so ergeben, weil er, seit er hier im Tal ist, regelmässig im Gottesdienst sass. Es entstanden Gespräche, man interessierte sich für ihn und bald schon folgten Aufgaben und Ämter.

Neue Möglichkeiten nutzen. Eigentlich war Helmut Andres der Liebe wegen in die Schweiz gezogen. Er suchte Ruhe und Abgeschiedenheit. Doch seine Berufserfahrung kommt ihm auch in seinen neuen Ämtern zugute. «Den Menschen eine Stimme geben», das ist ihm wichtig. Auch Vorstandsmitgliedern müsse man bisweilen den Mund öffnen. «Nicht vor sich ‹hinkrumeln›, sondern artikulieren», so Andres. Dafür seien Gremien doch da, im Vorstand der Kirchgemeinde ebenso wie in der Region, und gewisse Dinge müsse man auch mal beim Namen nennen. «Ob es an den Bergen liegt?», fragt er. Mit Erstaunen nimmt er bisweilen zur Kenntnis, dass Menschen im privaten Gespräch klarer Stellung bezögen, als sie dies in den Gremien tun. «Weshalb?» Wo zu lange geschwiegen werde, könne ein Konflikt unter Umständen zur Unzeit und mit ungeahnter Wucht aufbrechen. «Im Gespräch bleiben und Gespür füreinander entwickeln», das ist Helmut Andres deshalb wichtig.

Hat sich also in der Region Ela die Hoffnung erfüllt, dass durch Zusammenarbeit ein breiteres Angebot möglich ist? «Ja und nein», meint Andres. Im Bereich Jugend- und Seniorenarbeit sei das realistisch. Doch Distanzen würden nicht kürzer, nur weil sich Gemeinden zu einer Region zusammenschliessen. Man hoffe nun zusammenzufinden und vermehrt die jeweils andere Gemeinde in die eigenen Überlegungen miteinzubeziehen. Möglichkeiten regionaler Zusammenarbeit sieht Andres auch mit dem Parc Ela. Wanderungen zu den einzigartigen Bergkapellen der Region, Ziteil zum Beispiel. In der Suche nach gesellschaftlich bedeutenden Aufgaben hätten die Gemeinden Gelegenheit, Selbstbewusstsein zu entwickeln. In der Region Ela sei man diesbezüglich noch mitten in der Gründungseuphorie. Sobald Corona es erlaubt, will Helmut Andres erste gemeinsame Veranstaltungen auf die Beine stellen. Der Wille sei da, die Motivation auch.


Und dann gilt es auch, die Modellbahn draussen vor dem Chalet wieder in Betrieb zu nehmen. Die Abdeckungen müssen weggehoben und das Rollmaterial herausgeputzt, geölt und zum Laufen gebracht werden. Auch wenn das Viadukt von Brusio nun nicht mehr zu «seiner» Region gehört: Darauf verzichten will er keinesfalls. Und auf den winkenden Bahnhofvorstand von Susch erst recht nicht.

Helmut Andres ist Anwalt und Präsident der Kirchgemeinde Bivio-Surses und der Kirchenregion Ela.

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